piwik no script img

ARTUR, BERLINOIDOrdnung ist das halbe Leben

■ Die andere Hälfte ist Unordnung

»Natürlich habe ich den Artikel im 'Spiegel‘ gelesen«, schlürfte Arturs Gegenüber seinen Früchtetee und fuhr sich nach all den bärtigen Jahren über die aalglatt rasierten Wangen, »Über die Zigeunerkinder in Hamburg und so...« »Ach?« machte Artur und dachte an Fabienne und das alles und die Camargue. »Ja«, setzte sein Gesprächspartner hinzu und nippte an seiner Tasse, »wir hätten damals schon erkennen müssen, daß diese unsere Gesellschaft tendenziell gewaltfrei, sozial sicher und der Humanität verpflichtet ist.« »Aha«, sagte Artur, »ah«, und »hmhmhm«, und er schürzte dabei seine Lippen, als lutschte er saure Drops. »Harte Arbeit wäre damals vonnöten gewesen, so wie diese sozialdemokratischen Kärrner...« und er rollte seinen Früchtetee wie einen Côte du Rhône über die Zunge und langsam durch die Kehle. »Wie die von uns damals so verachteten Revisionisten«.

»Och«, machte Artur. »Diese völlig unverständlichen Parolen dieser Jahre, diese völlig veralteten Maßnahmen, diese ganzen Verquastheiten... Also ich kann in unserer Gesellschaft gut leben und will hier alt werden!« »Heimat«, nickte Artur verständnisinnig, »Heimat ist der Ort, den man sich immer wieder neu erobern muß, home is where you make it.« Einer müde abwinkenden Handbewegung folgt ein kräftiger Schluck aus dem feinen Porzellan.

»Eigentlich«, sinnierte Artur bei sich und griente seinen Tischnachbarn an, »eigentlich habe ich weder Lust auf diesen Realitätsverlust des Spießertums, engherzig, kleinkariert unbd unerschüttert pädagogisch, noch auf glatzrasierten Lumpenpöbel«, und erschüttert über sich selber hörte er sich seinem Gesprächspartner entgegnen: »Clevere finden Lösungen für Probleme, kluge Menschen vermeiden sie.« »Kein Problem, überhaupt keins, auch das nicht«, erwiderte der Glattrasierte, »ich bin zu müde, um mir Lösungen auszudenken!« »Recht hast du«, murmelte Artur, »man muß sich selbst gegenüber großzügig sein!« Er hob sein Glas, nahm diesen letzten unvermeidlichen Zug aus der Selbstgedrehten, stand auf, drehte sich noch einmal um und setzte leis hinzu: »Im multinationalen Chaos sind weiche Dinge und produktive Connections gefragt, mein Alter.« Er fixierte sein Gegenüber aus halbgeschlossenen Lidern, schnittfest, und das lässige, levantinische Lebensgefühl hatte ihn wieder. »Wir sollten nicht darüber nachdenken, was wir getan haben, sondern darüber, was wir uns noch nie getraut haben.«

Schon im Weggehen faßte Artur in seine Brusttasche, zog einen dieser aus benutzten Briefumschlägen geschnittenen Karteizettel hervor, griff sich des Glattrasierten teures Schreibgerät, schrieb: »Wenn, wie man so sagt, Ordnung das halbe Leben ist, dann finde ich es logisch, daß die andere Hälfte Unordnung sein muß. Und während wir hier noch sitzen und räsonnieren und Pläne machen, findet das statt, was ich Leben nenne. Artur« Mit einer eleganten, wenngleich etwas hölzernen Geste überreichte er seinem Gastgeber den wertvollen Kolbenfüller und das beschriebene Papier. »Morgen ist auch noch ein Tag, Herr Doktor«, deutete einen verunglückten militärischen Gruß an und zog leise lächelnd die Tür hinter sich ins Schloß. »Ach Artur, das Leben ist hart! Gestern Pirat und heute privat...«, brummelte Artur vor sich hin und sog die Kühle der Nacht ein. Artur

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen