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■ ARTUR BERLINOIDHerbstzeitlos

Am Tag, als Onkel Ewald starb, war es Artur nun überhaupt nicht nach Endlichkeiten und Trauer. Alle waren sie in Bertrams Garten gewesen, angefeuert von dessen Grundsatzvorträgen über Unkrautkultur, fröhlich, brennesselverbrannt, und sie hatten endlich angefangen, ihren Augen zu trauen, als die Posthalterin von Klein-Denkte ihre Brotzeit unterbrochen hatte: »Ein Anruf aus Nebel! Ein Herr Riebenzel liegt sehr krank im Hospital!« keuchte sie, »es geht ihm gar nicht gut, und ich soll Artur bescheid sagen!« Eingeübt beiläufig, auf die Wirkung ihrer Worte jedoch lauernd bedacht, blickte sie in Bertrams Wohnküche herum. Bertram rieb sein Kind, Artur fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Man sagte mir am Fernsprecher«, ergänzte die Postlerin wichtig, »Herr Riebenzel liegt im Sterben.«

Artur hatte sich schwer aus seinem Stuhl erhoben, beide Fäuste auf die Tischplatte gestützt und blickte müde auf die Botin. Er nickte leise, zog die Schultern hoch, ließ sie wieder fallen, warf Zora und Bertram ein kleines Lächeln zu und hatte, den Zündschlüssel für die klapprige Camionette schon zwischen Daumen und Zeigefinger, seine Joppe übergestreift.

Von Klein-Denkte bis Nebel ist es nicht weit, wohl zwei Autostunden, wie man so sagt, vielleicht auch mehr oder weniger. Artur war wider alle Vernunft und verbissen nach drei Viertelstunden auf dem Parkplatz vorm Krankenhaus angekommen, hatte seine Jacke zurechtgerückt und ist dann, gegen den süßlichen Geruch der Desinfektionsmittel und gegen das Flüstern weißgestärkter Schwestern, hineingegangen. Eine junge Ärztin wies ihm den Weg in Ewalds Zimmer.

Erschüttert betrachtete Artur das faltenreiche Gesicht, die geschlossenen Augen und all diese furchtbaren Schläuche und Drähte, die zu Ampullen und Apparaten führten. »Wer eigentlich zwingt uns, so etwas zu dulden?« dachte er und legte dem Alten sacht seine Fingerspitzen in die Hand. Unverständliche Silben, kehlig, kamen von dessen Lippen, laut gestöhnt, und mit völlig unerwarteter Kraft umschloß Ewald Arturs Finger. Jetzt erst nahm Artur dieses Gerät mit dem Bildschirm wahr. Piepsend zogen grünliche Punkte rhythmisch über den Monitor, dann immer schneller und schneller, tüt, tüt, tüt, tüt. Artur fühlte seinen Mund trocken werden; er kniete an Ewalds Lager und strich mit der Linken behutsam dessen Arm, als Stille eintrat. Nur eine lange grünliche Linie war noch auf dem Bildschirm zu erkennen, nichts weiter. Artur hoffte nix, er fürchtete nichts. Ein Hauch, so war ihm, ein kühler Luftzug ging durch den Raum; harter Druck zwang ihn, die Stirn auf den Rand des Bettes zu pressen.

»Er ist gestorben«, sagte er heiser zu der Assistentin im Nebenraum, war ihr um den Hals gefallen, die Nase in ihr Haar vergraben, und er hatte lächelnd hinzugesetzt: »Wie auch wir hat er gewußt, wir alle sterben, auf diese oder auf eine andere Art. Das hat er akzeptiert, damit konnte er umgehen; so war er sein Leben lang frei, hat sich nie unterworfen, es stets abgelehnt, Zwang zu ertragen... eine Rückversicherung dafür hat er nie abgeschlossen.« Clemens Walter Foto: Kulturrecycling, Transit-Verlag

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