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Archiv-Artikel

ARNO FRANK über GESCHÖPFE Tod unter dem Turnschuh

Über Tücke, Mut, Langeweile und Tapferkeit in einer Wüste, die keine ist

EM Cioran wurde 1911 in Rumänien geboren, verbrachte als Student ein paar dunkle Jahre mit dem Studium von Hegel, Fichte, Schopenhauer und Kant im braunen Vorkriegsdeutschland, bevor er 1937 als Stipendiat nach Paris reiste, wo er als passionierter Pessimist bis zu seinem Tod 1995 an Bücher mit so spaßigen Titeln wie „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“, „Syllogismen der Bitterkeit“ oder „Die Lehre vom Zerfall“ arbeitete. Weil Cioran Gift und Galle häppchenweise reicht, in handlich geschliffenen Aphorismen, eignet er sich bestens als kurzweilige Urlaubslektüre: „Was sind schon alle Tragödien Shakespeares gegen das ewige Drama der Niedertracht und Tücke und der Grausamkeit, das täglich in der Welt der Insekten sich abspielt?“ Mein Bruder bewahrte mich davor, über diese fiese Frage allzu sehr ins Grübeln zu geraten: „Leg doch den depressiven Scheiß weg“, sagte er, und „wollten wir nicht schwimmen gehen?“

Wir waren gerade aus dem warmen Wasser geklettert und hatten uns bäuchlings auf die Kalksteinplatten gelegt, um uns ganz gemächlich in der Hitze trocknen zu lassen. Es sind die schlichten Vergnügungen, die schlichten Geistern wie mir das größte Vergnügen bereiten. „Aus dieser Perspektive könnte die Veranda auch … eine Wüste sein“, bemerkte schläfrig mein Bruder: „Ich glaub, ich hol uns mal was zu trinken“, sagte er und verschwand im Haus.

Widerwillig öffnete ich die Augen – und hockte augenblicklich wieder hinter dem Steuerknüppel des legendären imaginären Flugzeugs, aus dem ich als Kind auf die Baumkronen eines wilden afrikanischen Dschungels herabgeblickt hatte, auch wenn es einem erwachsenen Beobachter so scheinen musste, als läge der arme Junge mal wieder träumend im Rasen hinter dem Haus.

Jetzt war es eben das gleißende Hochplateau einer lebensfeindlichen Salzwüste, die unser Gesichtsfeld komplett ausfüllte und, wie es sich für eine richtige Wüste gehört, gerade von einer Karawane emsiger Ameisen durchquert wurde. Einige der knapp zentimeterlangen Tierchen plagten sich mit ungeheuren Lasten – angefressenen Blättern, abgeknickten Grashalmen, zerplatzten Vogelbeeren und all dem anderen winzigen Biomüll, der so einem Ameisenvölkchen als Hausrat, Futter, Währung oder Dekoration dient.

Fernab der Karawane allerdings schien eine Ameise allein ihren Weg zu suchen. Anders als ihre Artgenossinnen bewegte sie sich nur zögernd vorwärts, betastete mal hier ein Steinchen, mal dort einen Wasserfleck. Eine Kundschafterin, vermutete ich noch – dann sah ich die Spinne. Eigentlich war es mehr ein Spinnchen, nicht größer als die einsame Ameise. Unterwegs in den endlosen Weiten waren sie beide, Spinne und Ameise, zwei schwarze Pünktchen in der Salzwüste unserer Veranda.

Kaum aber hatte die neugierige Ameise das rätselhafte andere Tierchen gesichtet, bewegte sie sich zielstrebig darauf zu. Die Ameise war nur noch einen Zentimeter entfernt, da verwandelte sich vor unseren Augen die Spinne – in eine Ameise, wobei der hochgestreckte Hinterleib den Kopf und die ausgestreckten hinteren Beinpaare die Fühler simulierten. Dieser vertraute Anblick ließ die Kundschafterin alle Vorsicht vergessen, mit zitternden Fühlern eilte sie zur freudigen Begrüßung der vermeintlichen Artgenossin. Kaum hatte sie deren Hinterbeine berührt, wurde sie mit einer Ladung Gift in Empfang genommen und, benommen, bei lebendigem Leibe in einen Kokon eingesponnen, den die erfolgreiche Räuberin nun hinter sich herschleppte, quer durch die Wüste, nach Hause …

Ich war einigermaßen verblüfft und entsetzt und konnte mich nicht entsinnen, jemals etwas so Tückisches beobachtet zu haben. Da kehrte mein Bruder zurück, beugte sich über das grausame Schauspiel und kicherte begeistert: „Sieht aus wie Will Smith in ‚Independance Day‘, wo er diesen Außerirdischen in seinen Fallschirm wickelt und durch die Wüste hinter sich herzieht!“ Dann begrub er das ewige Drama aus Niedertracht und Tücke unter seinem Turnschuh.

Fragen zu Gift & Galle? kolumne@taz.de Morgen: Adrienne Woltersdorf OVERSEAS