ANALYSE: Der Tod des Trommlers
■ Wer ermordete den algerischen Staatspräsidenten? Eine Motivforschung.
Der Antiterror-Polizist, der Montag früh mit einer ruhigen Bewegung den Vorhang zur Bühne im Kulturpalast von Annaba teilte und das Magazin seiner Maschinenpistole in den Rücken von Mohamed Boudiaf leerte, erschoß nicht einen Staatspräsidenten, sondern einen Statisten, der gerne mehr gewesen wäre und daran zu Tode kam. Darin liegt Boudiafs persönliche Tragödie, und es ist wie ein Lehrstück, Algerien aus dem Leib geschnitten: ein Land zwischen nationalistischer Militärbourgeoisie, Internationalem Währungsfonds und Islamischer Revolution.
In Wahrheit starb Mohamed Boudiaf schon 166 Tage früher. Als er am 16.Januar nach fast drei Jahrzehnten marokkanischen Exils in Algier ankam, war er Opfer der Versuchung, dem Land mit harter Hand rettend vorzustehen. Er war eine moralische Instanz. Er war der Älteste der Revolutionäre, der Gründer der FLN (Mitglied Nummer OO1) und ihr erster — rätekommunistischer — Dissident. Er hatte nicht, wie die gesamte algerische Nomenklatura, in Diebstahl, Korruption, Völlerei, Mord und Folter gebadet. In seinem letzten marokkanischen Interview sagte Boudiaf, die Anliegen der Islamischen Heilsfront (FIS), die den ersten Wahlgang gewonnen hatte, seien legitim, die Wahlen keinesfalls abzubrechen. Er könne, so Boudiaf im Januar, in den Reihen der Generäle kein politisches Konzept ausmachen.
General Khaled Nezzar, der eigentlich starke Mann des Regimes mit Hang zu einem Pinochet, nahm Boudiaf am Flughafen in Empfang. Der erste TV-Auftritt des Präsidenten am Abend wurde immer wieder hinausgeschoben. Als Boudiaf schließlich sprach, wurde klar, daß die Generäle auf Jahre installiert waren, die Wahlen endgültig abgebrochen, die Demokratie in Algerien abgesagt und daß Boudiaf nie mehr sein würde als der moralische Schleier, den sich die Junta vorgehängt hatte, Hocine Ait-Ahmed, der alte Kampfgefährte, sagte bedrückt: „Dieses Regime ist eine Maschine, die die besten Männer zermalmt.“ Seither spielte Boudiaf die Rolle der „Eisenmaske“, der Geißel für die Islamisten und des autoritären Vaters mit einer trotzigen Selbstverleugnung. Die Straßenjungen nannten ihn „Van Cleef“, nicht nur wegen dessen legendärer Häßlichkeit: Boudiaf, sagten sie, schießt zuerst und diskutiert danach. Er starb an seiner Charge.
Die Islamisten von der Heilsfront (FIS) sahen in ihm einen natürlichen Todfeind, auch wenn Boudiaf immer wieder vom „berechtigten Hunger des Volkes nach Wechsel und Gerechtigkeit“ sprach. Auf einer jüngst angeschlagenen Liste von 1.000 Männern, denen die FIS nach dem Leben trachtet, stand Boudiaf an erster Stelle. Ein Tyrannenmord also?
Die Wahrscheinlichkeit, daß Boudiaf unter FIS-Kugeln fiel, ist gering. Ein FIS-Sprecher im Untergrund bezeichnet die Todesliste als eine „grobe Fälschung der Sécurité militaire“, der militärischen Geheimpolizei also. Die FIS, läßt er durchblicken, hätte höher gezielt, auf Nezzar oder dessen Innenminister General Larbi Balkheir. „Wir haben kein Interesse an mehr Repression. Das Regime ist in einer kritischen Lage. Wir stehen kurz vor der sozialen Explosion. Der Prozeß in Blida gegen unsere Scheichs (gemeint sind die FIS-Führer Madani und Belhadj, A.d.R.) liefert uns eine ideale Bühne, die AlgerierInnen, die um ihre Existenz kämpfen, sind ein gutes Publikum und das 30jährige Jubiläum unserer erfolgreichen Revolution ein idealer Anlaß. Was sollen wir da Boudiaf töten? Der ist von den Seinen liquidiert worden.“
Politische Verbrechen haben es an sich, daß der Arm, der die Mörderhand führt, oft im eigenen Lager erhoben wurde. Einziger Aufschluß gibt uns die Frage: Wem dient die böse Tat?
Rache ist ein gutes Motiv. Folgen Sie meinem Blick — wir sehen die alte FLN-Nomenklatura. Boudiaf haßt mehr als die Islamisten nur die Obristen, die ihn 1964 aus dem Land zwangen und seither schmatzend über ihrem Geierfraße saßen. Kaum im Amt, trieb der Präsident des „Hohen Staatsrats“ (HCE) die Zerschlagung der alten Einheitspartei voran, ließ ihr Vermögen einziehen und initiierte gegen den Widerstand mancher Generäle eine Anti-Korruptionskampagne. General Mustafa Belloucif war ihr erstes Opfer, immerhin die frühere rechte Hand des abgesetzten Staatspräsidenten Chadli Bendjedid. doch als Belloucif glaubhaft drohte, er werde Nezzar und Co in den Strudel ziehen, stoppten Premier Ghozali und der Juntachef den Staatspräsidenten. Boudiaf gab kleinlaut auf: „Wir haben keine Beweise.“ Die aber lägen haufenweise rum, und die Worte wurde vom Volk flugs zu einer Anekdote umgebaut: Boudiaf empfängt einen Politiker, der ihm sagt: Monsieur le président, Sie sind ein Tyrann. Boudiaf darauf: Wir haben keine Beweise.
In den kommenden Tagen sollte zudem in einer größeren Rochade ein beträchtlicher Teil des diplomatischen Personals ausgewechselt werden. Einträgliche Pfründe waren auf dem Spiel. Genügend Grund zum Mord. Ob die alten Nomenklaturisten ihren Einfluß freilich bis in Boudiafs nächste Umgebung ausdehnen konnten, ist fraglich. Der Mörder, sagten gestern algerische Journalisten, hatte Komplizitäten auf höchster Staatsebene.
Folgen wir ihrem Blick. Zwischen Nezzar und Boudiaf glimmte die Lunte schon geraume Zeit. Als der Präsident einen unfähigen hohen Militär in den Vorruhestand schickte, ernannte ihn der Junta- Chef sogleich zum persönlichen Berater. Aber zwischen den beiden stand vor allem Boudiafs Ambition, mehr zu sein als Nezzars Trommler. Behutsam und gemächlich hatte der alte Revolutionär eine Hausmacht aufgebaut, unterstützt von einem jungen in den USA und Frankreich geschulten Beraterteam. Ein erster Versuch Boudiafs, seine Rolle weit ausgelegt zu spielen, mißlang: Nezzar mochte ihm den Kopf von Ghozali nicht präsentieren. Boudiaf warf Ghozali ein falsches, zu sehr IWF- orientiertes Wirtschaftsprogramm vor. Sein Versuch, mit der patriotischen Versammlung den Keim einer neuen Einheitspartei zu legen, wurde ein zweiter Flop. Letzte Woche nun präsentierte sich Boudiaf als Präsidentschaftskandidat und setzte gleichzeitig auch noch gerde den Wahltermin fest: Anfang 1993. Zähneknirschen bei Nezzar. Doch Boudiafs großer Coup stand aus: Wie gestern ein Berater des getöteten Mannes durchblicken ließ, hatte der Präsident für den 5. Juli (Jahrestag der Befreiung) ein „explosives Paket“ geschnürt. Öffentlich, und ohne vorherige Absprache, wollte Boudiaf, so scheint es, eine gewisse Öffnung zu den politischen Parteien hin und eine nationale Konferenz ankündigen. Die Parteien, auch Ait Ahmeds FFS, hatte Boudiaf bisher von allen Verhandlungen ausgeschlossen. Reichlich Grund für Nezzar, Boudiaf zu stoppen. Anders als Chadli Bendjedid war Boudiaf aber nicht abzusetzen. — das Regime hätte auch den letzten Kredit eingebüßt. Blieb nur der Mord.
Der kam Nezzar ohnehin zupaß. Die Lage seiner Junta ist hoffnungslos. die internationalen Kreditgeber drehen die Schraube zu. Die IWF- Delegierten stellen täglich neue, einschneidende Forderungen. Frankreich verweigert die gütliche Umschuldung. Die Preisexplosion hat viele AlgerierInnen an den Rand des Hungers gebracht. Ein Teil der Armee, Diplomaten reden von einem Viertel der Diensttuenden, ist bereit, zu den Islamisten überzulaufen. Desertionen häufen sich. Im Südosten und im Oranland gingen Soldaten und Unteroffiziere in den Maquis. Unterm Strich: Nezzar kann die Lage nur stabilisieren, wenn er die Repression verstärkt. Der Mord an Boudiaf liefert ihm den Vorwand. Oliver Fahrni
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