AM FAMILIENTISCH : Menschenkenntnis
Es gibt Ereignisse, die man gerne ausfallen lässt. Etwa die Familien von anderen Leuten zu besuchen. Schon die eigene Familie birgt Tücken, aber bei fremden Angehörigen am Tisch zu sitzen und nicht zu begreifen, wieso man sich das antut, ist äußerst quälend.
Erstens weiß man nicht,wie viel Humor diese Menschen vertragen, und wenn man es herausgefunden hat, ist es meist zu spät. Zweitens weiß man nicht, wie ernst die Streitigkeiten am Tisch wirklich sind, bis man begreift, dass man kurz davor steht, Zeuge eines Massakers zu werden.
Bei deutschen Mitbürgern heißt so etwas dann Familientragödie, in diesem Fall gern auch Ehrenmord. Und drittens ist man selbst der Buhmann, wenn man einen grenzwertigen Scherz macht, und dann auch noch anmerkt, dass das Familienoberhaupt doch mal etwas lockerer mit der Situation umgehen soll. Dann fallen Sätze wie: „Könntet ihr nicht mal versuchen, normale Menschen wenigstens zu imitieren?!“ Oder: „Das einzige Ja-Wort dass sie von mir bekommen hat, war am Hochzeitstag, das muss reichen.“ Oder: „Du siehst morgens schon so Scheiße aus wie Vera am Mittag!“ Was wiederum eine abstrus in den Raum geworfene Behauptung meinerseits war, um mich der Situation anzupassen.
Wie solche komplexen Familienstreitigkeiten noch weiter ausarten könnten, wenn die Betroffenen erfahren sollten, dass ihre Probleme auch noch in der Zeitung thematisiert werden, möchte ich mir nicht ausmalen. Das Gute daran ist, dass man den Ort des Geschehens schnell wieder verlassen kann, da der Abend zufälligerweise im totalen Chaos versinkt. Allerdings sollte man Folgendes nie außer Acht lassen: Das Dumme an Zufällen ist, dass sie sich so schlecht voraussagen lassen, aber wenn man einen Zufall absichtlich herbeiführt, ist es auch kein Zufall mehr.
JURI STERNBURG