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Archiv-Artikel

ALT-MARIENDORF Endstation

Beim Einsteigen in den Bus zeige ich meine Schüler-Montagskarte

Als ich am Flughafen Tegel ankomme, bin ich so groggy, dass ich aus Versehen in den falschen Bus steige und mich am Kurt-Schumacher-Platz wiederfinde. Von da fährt die U 6. Da ich zum Herrmannplatz will, muss ich am Mehringdamm umsteigen. Egal, vielleicht geht das sogar schneller als die übliche Tour mit der U 7. Während ich versuche, es mir auf dem Klappsitz neben der Tür bequem zu machen, fällt mir ein, dass die Endstation der U 6 Alt-Mariendorf ist, wo ich meine Kindheit verbracht habe.

Auf der Fahrt dämmere ich ein paarmal weg, Berliner U-Bahn-Realität vermischt sich mit wirren, kurzen Träumen. Als die Bahn am Mehringdamm hält, bleibe ich sitzen. Im Halbschlaf nehme ich wahr, wie wir weiter Richtung Mariendorf fahren. Über uns saust die kahle Tempelhofer Turnhalle hinweg, in der ich einmal die Woche zur verhassten Gymnastik muss. Der Gemeindesaal der Friedenskirche, in der der Küster Herr Maschke mir Gitarrenunterricht gibt. Die Rudolf-Hildebrandt-Grundschule, einen Gründerzeit-Kasten wie aus dem Anker-Steinbaukasten mit langen, hohen, hallenden Gängen, in dem ich zur Schule gehe.

Als die Bahn in Alt-Mariendorf hält, steige ich aus. Meinen Koffer lasse ich stehen, er ist jetzt zu schwer und zu groß für mich. Beim Einsteigen in den Bus zeige ich meine Schüler-Montagskarte, die an einem Band um meinen Hals hängt. Wir fahren den Mariendorfer Damm entlang. Ich steige an der Trabrennbahn aus, biege in den Pilatusweg ein. Es wird dunkel, und ich bin das einzige Kind weit und breit. Ich beginne zu rennen bis zu unserem Haus. Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Alles schläft schon. Ich steige mit meinen selbst gestrickten Ringelsocken leise die Treppe hoch. In meinem Kinderzimmer krieche ich unter die Bettdecke und hoffe, dass meine Eltern nicht gemerkt haben, dass ich so spät noch allein draußen war. TILMAN BAUMGÄRTEL