: Lizenz zum Beschneiden
In Sierra Leone sind neunzig Prozent der Frauen beschnitten. Sie halten an der Tradition fest, nicht zuletzt, weil sie im Alltag keine Rechte haben
AUS FREETOWN REBEKKA RUST
Auf der Straße verbeugen sich die Menschen vor ihr: „Guten Tag, Mami Saio“, sagen sie voller Respekt. Wie eine Halbgöttin strahlt die alte Dame Stolz und Erhabenheit aus. In Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones, gilt die 60-jährige Mami Saio als eine der Besten. Sie ist seit über vierzig Jahren Beschneiderin und ist bekannt für ihre Professionalität, Routine und Schnelligkeit: „Oft beschneide ich hundert Mädchen auf einmal. Für zwanzig brauche ich etwa eine halbe Stunde“, berichtet sie stolz. Um Aufträge muss sie sich keine Sorgen machen. Sie hat einen lukrativen Job. Allein das Abschneiden der Klitoris kostet zwischen 30 und 150 US-Dollar.
Der Preis für die Beschneidung richtet sich nach Größe, Gewicht und Alter des Mädchens: Für ein großes, kräftiges Mädchen in der Pubertät nimmt Mami Saio mehr als für eine Zweijährige, die nicht die Kraft hat, sich zu wehren. In einer patriarchalischen Gesellschaft wie Sierra Leone haben Frauen klar definierte Aufgaben: Ehemann, Kinder und Haushalt. Dass sie kein Einkommen haben, verstärkt ihre Abhängigkeit. Beschneiderinnen hingegen gehören zur emanzipierten Klasse. Sie verfügen über zwei Dinge, von denen andere Frauen träumen: Geld und Ansehen.
Elf Jahre lang wütete ein Bürgerkrieg in dem westafrikanischen Küstenstaat zwischen Liberia und Guinea. Der Krieg, seit 2002 beendet, hat das Land zerstört. Sierra Leone ist heute hinter der Republik Niger das zweitärmste Land der Welt. Die Kriegswunden sind auch nach vier Jahren noch nicht verheilt. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt unter der Armutsgrenze, die Infrastruktur ist zerstört, es fehlt an Bildungseinrichtungen und Arbeitsplätzen. Produktion und Nutzung landwirtschaftlicher Erzeugnisse finden praktisch nicht statt. Konsumgüter haben hohe Preise und Ursprungsstempel ausländischer Unternehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Siedlungen aus Wellblech, ohne fließendes Wasser und sanitäre Anlagen. Nicht entsorgte Müllberge verrotten an jeder Straße. Während die Regeneration nach dem Krieg nur sehr schleppend erfolgt, lässt die Vision der Regierung „Sierra Leone 2025 – United People, Progressive Nation, Attractive Country“ auf eine bessere Zukunft hoffen.
Noch ist der Alltag der Menschen ein täglicher Kampf ums Überleben. Um ein wenig Halt und Orientierung zu erfahren, bemühen sich die Einwohner, an ihren Traditionen festzuhalten. Die Tradition der Frauenbeschneidung, die zu Bürgerkriegszeiten einen geringeren Stellenwert hatte, erlebt seit Kriegsende einen Aufschwung. „Beschneiderinnen haben wieder alle Hände voll zu tun. Es gab sogar Massenbeschneidungen mit hunderten von Mädchen, als ob man binnen kurzer Zeit alle erwischen wollte, die während des Krieges nicht beschnitten werden konnten“, sagt Ann-Marie Caulker, Leiterin der Katanya Women’s Development Association (Kawda) in Freetown, einer lokalen Frauenrechts-NGO.
Die Quote beschnittener Frauen liegt in Sierra Leone bei neunzig Prozent. Im Rahmen von Beschneidungsfesten werden den Mädchen Klitoris und innere Schamlippen abgetrennt. Für bereits beschnittene Frauen haben Beschneidungsfeste eine immense Bedeutung. Sie zählen zu den Hauptgründen, an der Tradition festzuhalten. Dass Mädchen während der Feste beschnitten werden, ist für viele zweitrangig. Die einst selbst erlebten Schmerzen rücken in den Hintergrund. „Wenn man uns die Tradition nimmt, haben wir gar nichts mehr“, sagt eine junge Frau in Freetown. Würde man ihnen das Beschneidungsfest nehmen, gäbe es für die Frauen überhaupt kein Entrinnen mehr aus ihrem harten Alltag. „Nur zu diesen speziellen Anlässen haben Frauen das Recht, das Haus zu verlassen. Viele Frauen warten auf diese Gelegenheit wie andere Menschen auf Weihnachten“, sagt John Caulker, Leiter einer Menschenrechtsorganisation in Freetown.
Die Beschneidung findet an einem Ort statt, der von Unbeschnittenen und Männern nicht betreten werden darf. Hier sind die bereits beschnittenen Frauen unter sich. Sie können rauchen, tanzen, Alkohol trinken und ihren Alltagsfrust vergessen. „Sie können tun und lassen, was sie wollen. Sogar nackt herumlaufen“, sagt Laurel Bangura, die sich mit ihrer Organisation Center for Safe Motherhood für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Frauen in Sierra Leone einsetzt. „Manche nutzen die Zeit, um eine Nacht zu ihrem Liebhaber zu gehen“, schmunzelt sie. „Eine Frau lebt in Sierra Leone als Sklavin ihres Mannes. Das Beschneidungsfest ist die einzige Freiheit, die sie erleben darf.“
Es gibt weitere Gründe für die große Bedeutung der grausamen Tradition. In Sierra Leone ist Polygamie kein seltenes Phänomen. Die Beschneidung gibt den Männern das Gefühl, ihre Frauen unter Kontrolle zu haben. Unbeschnittene Frauen gelten als promiskuitiv und liebestoll. Mohammed Basiru aus dem Dorf Brama und Mann einer beschnittenen Frau, will diese Erfahrung einmal gemacht haben: „Sie war so stürmisch, dass ich Angst bekam und dachte, sie wolle mich töten. Seitdem habe ich nie mehr eine unbeschnittene Frau berührt.“ Viele glauben, dass unbeschnittene Frauen stinkende Säfte absondern und unrein sind. Hassan Mansare, Basirus Nachbar, weiß, warum: „Afrika ist schmutzig und schwül, und all der Dreck, der in der Luft liegt, lagert sich an der Klitoris ab. Eine unbeschnittene Frau trägt daher den ganzen Schmutz Afrikas zwischen den Beinen. Deshalb muss sie beschnitten werden.“
Die Tradition ist in ein Geflecht aus Macht- und Geldinteressen eingebettet. Beschneiderinnen sind keine autonome Berufsgruppe. Für jedes Mädchen, das beschnitten werden soll, muss eine Beschneiderin 20 US-Dollar an den Dorfchef zahlen. Verschweigt sie manchmal die wahre Anzahl von Mädchen, um Geld zu sparen? Mami Saio schmunzelt: „Na ja“, sagt sie zweideutig. „Wir können auch in Reis, Ziegen oder Palmöl bezahlen.“
Nach Abschluss des Geschäfts stellt der Dorfchef der Beschneiderin eine Lizenz zum Beschneiden aus. Es heißt, dass die Lizenzen zum Beschneiden von der Regierung ausgestellt und an die Dorfchefs verteilt werden. Da in Sierra Leone die Dorfchefs auch Steuern bezahlen, sind die Einnahmen aus der Beschneidung ein Teil des Steueretats. Doch nicht nur dazu schweigt die Regierung. Politiker bauen auf Loyalität zur Tradition. Ein Gesetz gegen Frauenbeschneidung gibt es nicht.
Ganz im Gegenteil: Das Sponsoring von Beschneidungen hat sich als hervorragende Strategie erwiesen, die Gunst der Wähler zu gewinnen. Während des Wahlkampfes 2002 ließ die Frau des amtierenden Präsidenten Ahmad Tejan Kabbah die Beschneidung von vierhundert Mädchen in einem Vorort Freetowns als Fest der Massen inszenieren. Die PR-Strategie hatte Erfolg: Kabbah, seit sechs Jahren an der Macht, wurde wiedergewählt. Nächstes Jahr stehen in Sierra Leone Wahlen an. Schon jetzt sprechen sich die Anwärter auf das Amt des Präsidenten in der Öffentlichkeit für die Tradition aus.
Derartige politische Tendenzen nimmt Mami Saio gern auf. Sie ist eine von schätzungsweise 50.000 Beschneiderinnen in dem kleinen Land mit 5 Millionen Einwohnern. Ein hoher Verdienst und die finanzielle Absicherung der gesamten Familie kompensieren die emotionale Belastung, die einige verspüren. Viele Beschneiderinnen sind während der Arbeit betrunken. Manche von ihnen geben zu, sich mit Alkohol abzuhärten. Sie wollen nicht emotional berührt werden, wenn die Mädchen weinen oder bewusstlos werden. Beschnitten wird, wenn es kühl ist, abends, nachts oder frühmorgens, um starke Blutungen zu verhindern. Der Beschneidungsakt selbst gleicht einer Folter. Dem Mädchen werden die Augen verbunden. Danach soll es sich auf Bananenblätter oder eine einfache Plastikschale setzen, die das Blut auffangen kann.
„Je mehr du dich wehrst, umso schmerzhafter wird es. Ich hatte große Angst, sie könnten ganz tief in mich hineinschneiden und mir noch mehr Schaden zufügen. Also habe ich stillgehalten“, erzählt die Lehrerin Francis Koroma, die erst mit neunzehn Jahren beschnitten wurde. „Es ist so, als wollte man dich ans Kreuz nageln“, sagt sie. Zwei Frauen drücken die Beine auseinander, zwei halten die Arme, eine fünfte setzt sich auf den Brustkorb, um das Mädchen bewegungsunfähig zu machen. Vielleicht drückt eine sechste Frau den Kopf zu Boden. Eine weitere hält dem Mädchen den Mund zu, oder man knebelt es mit einem Stück Stoff, um die Schreie zu unterdrücken.
Wir tanzten ausgelassen, als sie mich holten. Ich wusste nicht, was passieren würde. Sie hatten den Mädchen, die vor mir dran waren, ein Stück Stoff in den Mund gedrückt, um sie am Schreien zu hindern. Mit mir taten sie das Gleiche“, erinnert sich Victoria Sesay, eine junge Frau aus Freetown. Wie Mami Saio meint, ist dann alles „im Nu“ vorbei. Während weitere Frauen am Ort des Geschehens ausgelassen trommeln, klatschen und singen, schneidet die Beschneiderin Klitoris und innere Schamlippen ab, die in eine kleine Holzschale fallen. All dies ohne Betäubung. Die Klinge wird selten ausgetauscht und die Wunde mit Erde und Heilkräutern versorgt. Besteht der Verdacht, dass nicht alles weggeschnitten wurde, mischen die Frauen auch geriebenes Glas unter die Kräuter.
„Mir haben sie das auf die Wunde geschmiert und gesagt, das Glas werde die restliche Klitoris aufessen“, erzählt Laurel Bangura. Sie verzieht das Gesicht, als spüre sie die Schmerzen immer noch: „Meine Wunde wurde durch das Glas wieder und wieder aufgerissen. Wenn ich urinieren musste, ging ich durch die Hölle.“ In der Tradition, wie sie heute praktiziert wird, erkennt sie keinen Sinn: „Worin liegt der Wert meiner Beschneidung? Ich kann nichts darüber sagen. Außer dass ich geknebelt, beschnitten und gequält wurde.“
Ursprünglich wurden Mädchen nach Eintreten ihrer ersten Menstruation beschnitten. Der Grundsatz lautete: Ist die Mango reif, muss sie gepflückt werden. Nach der Beschneidung lernten die jungen Frauen über einen Zeitraum von mehreren Monaten alles, was eine gute Ehefrau an Fähigkeiten und Verhaltensregeln beherrschen muss. Auf das Training folgte die Heirat. Heute finden Beschneidungen von Mädchen jeden Alters während der Schulferien statt. Hassan Kamara, Programmdirektor einer örtlichen Frauenrechtsorganisation, erläutert die Problematik: „Heute lernen die jungen Frauen nichts mehr. Sie werden beschnitten – und das war’s. Hat die Schule angefangen, sieht man deutlich am Gang der Mädchen, wen es erwischt hat. Die Wunde hat keine Zeit mehr, zu heilen.“ Nicht selten sind die Mädchen gerade einmal zwei Jahre alt. Kamara ist aufgebracht: „Einem zweijährigen Mädchen kann man erst recht nicht erklären, was es als Ehefrau für Pflichten wahrnehmen muss. Die Tradition hat ihren ursprünglichen Sinn verloren.“
Seit Ende des Bürgerkriegs haben sich kleine lokale Initiativen gebildet, die gegen Frauenbeschneidung vorgehen. Ihre Leiterinnen sind meist Frauen, die selbst beschnitten wurden und schreckliche Erinnerungen an dieses Erlebnis haben. Sie wissen, dass man den Frauen in Sierra Leone die Tradition der Beschneidung nicht einfach nehmen kann, solange sie sich im täglichen Leben ausnahmslos dem Willen ihres Ehemanns unterordnen müssen. Und doch wiegen die negativen Folgen schwer. „Soll ich im Namen unserer Tradition schweigen, obwohl Mädchen an der Beschneidung sterben?“, fragt sich Ann-Marie Caulker. Die 36-Jährige wurde als kleines Mädchen gewaltsam von ihrer Stiefmutter beschnitten. Es mangelt an Gesetzen und Ordnung, politischem Willen und angemessenem Rückhalt in der Bevölkerung. Trotz aller Schwierigkeiten geben die Gegnerinnen der Beschneidung nicht auf. Sie wollen die Frauen darüber aufklären, dass ihre körperlichen und psychischen Beschwerden häufig auf ihre Beschneidung zurückzuführen sind.
Die Tradition hat verheerende gesundheitliche Folgen. Beschneidung gilt in Sierra Leone als die Hauptursache für die Übertragung von HIV, da mehrere Mädchen mit derselben Klinge beschnitten werden. Viele sterben an Tetanus. Olayinka Koso-Thomas, Frauenärztin und Vorsitzende der sierra-leonischen Sektion des Inter-African Committee against harmful traditional practices, sieht sich mit den gesundheitlichen Folgen der Beschneidung täglich konfrontiert. „Durch die Narbenplatte, die sich nach der Beschneidung bilden kann, haben viele Frauen Menstruationsbeschwerden“, sagt die Ärztin. „Bei einigen kann das Blut überhaupt nicht abfließen, sodass es sich über Monate, manchmal Jahre, im Körper sammelt. In diesem Fall muss ich ein kleines Loch in den Genitalbereich schneiden und einen Katheter einführen. Durch den lasse ich dann drei bis vier Stunden lang das Blut heraussickern.“
Besonders schlimm trifft es Frauen mit stark wachsendem Narbengewebe. „Wenn eine solche Frau beschnitten wird, wächst eine dicke, hervorstehende Narbe über die Schnittstelle. Es passiert, dass solche Frauen mehrfach beschnitten werden, da man glaubt, sie seien vom Teufel besessen. Manche überleben diese Tortur nicht“, sagt Koso-Thomas. Zusätzlich erschwere das Narbengewebe die Geburt, da keine ausreichende Dehnungsfähigkeit im Gewebe bestehe. Häufig komme es dann zu Totgeburten.
Geschlechtsverkehr ist in den meisten Fällen ein schmerzhafter Akt, den man als Frau erdulden muss und der allein der Reproduktion dient. „Sex zum Vergnügen? Ich lege mich hin und lasse ihn sein Geschäft verrichten“, erzählt Fatima Koromah aus dem Dorf Makali. Sie berichtet davon, dass man nachts aus den Hütten Weinen hören könne. Was das angemessene Sexualverhalten von Frauen angeht, so ist Mami Saio eine Vertreterin der alten Schule: „Der Mann hat die Kontrolle. Er kann den Sex genießen, sie muss schwach sein und weinen. Schmerzen bei der Frau steigern das Lustgefühl des Mannes.“
Laurel Banguras Stimmung erreicht jedes Mal einen Tiefpunkt, wenn sie darüber nachdenkt, dass es Frauen sind, die sich gegenseitig beschneiden. Warum fügen Frauen anderen Frauen solches Leid zu, obwohl sie es selbst am eigenen Leib erfahren haben? Die Freiheit, die Frauen bei den Beschneidungsfesten erleben, sei eine große Täuschung. Die Tradition ist zum Spielball politischer, ökonomischer und sozialer Interessen geworden, die letztendlich ein gemeinsames, unausgesprochenes Ziel verfolgen: die Frau dem Mann unterzuordnen.
„Viele Frauen merken nicht, was die Gesellschaft aus ihnen macht“, sagt Bangura. „Ich würde mir wünschen, dass wir Frauen eines Tages die Freiheit haben, unser eigenes Leben zu leben und unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wann werden wir uns unseren Ehemann selbst aussuchen und unsere Sexualität ohne Schmerzen genießen können? Wie lang muss ich noch akzeptieren, dass eine Frau ein Kind im Leib trägt, während sie täglich schwerste körperliche Arbeiten verrichtet? Wie lange wird es dauern, bis die Frauen an mögliche Verbesserungen ihrer Lebenslage glauben und ihre Stimme erheben?“
Die 60-jährige Beschneiderin Mami Saio sieht gelassen in die Zukunft. Das Ende der Tradition wird sie mit Sicherheit nicht mehr erleben.
REBEKKA RUST, 26, lebte 2005 für mehrere Monate in Sierra Leone. Im Rahmen eines entwicklungspolitischen Stipendiums arbeitete sie für eine lokale Frauenrechtsorganisation mit dem Schwerpunkt Frauenbeschneidung in Freetown. Zu diesem Thema schreibt sie gegenwärtig ihre kulturwissenschaftliche Magisterarbeit