piwik no script img

9/11-KommentarDas 9/11-Syndrom

Robert Misik
Kommentar von Robert Misik

Der 11. September hat eine tief gehende gesellschaftliche Pathologie mit sich gebracht: Die Rückkehr der religiösen Identitäten in den öffentlichen Diskurs.

S o paradox das klingen mag: Am 11. September 2001 war die Welt noch in Ordnung, die Anschläge von Ussama Bin Ladens Todessekte hatten die Welt noch nicht vollends aus dem Lot gebracht. Noch einige Zeit danach konnte man sich darauf einigen, ein neuer Totalitarismus, der "Islamismus", habe die freie Welt ins Visier genommen. Also: nicht Kampf der Kulturen. Sondern Kampf der Freiheit gegen die Kräfte der Unfreiheit.

Sieben Jahre später haben wir es mit dem alltäglichen Kleinkrieg der Kulturen zu tun - mit allerlei Überspanntheiten, aber auch mit realen Mordversuchen wie der jüngsten Messerattacke auf einen jüdischen Rabbiner in Frankfurt. Ein Einzelfall? Einzelfälle kommen hier nicht aus dem Nichts.

Man kann sich die Sache noch immer, ja, fast möchte man sagen: schönreden. Dass dies eben allein die Pathologie radikaler Muslime ist. Aber längst hat das Reden von den "Kulturen", den "Identitäten" und von der "Rückkehr der Religionen" eine viel tiefer gehende gesellschaftliche Pathologie mit sich gebracht. All die postmodernen Ideen von den Patchworkidentitäten und den Bastelbiografien, sie sind fast vergessen. Menschen, wie komplex ihr Leben auch sein mag, werden wieder zuvörderst als Produkte ihres religiösen Herkommens betrachtet. Sie werden anhand kultureller Bruchlinien sortiert und sortieren sich auch selbst so.

Muslime stehen unter Generalverdacht, die christlichen Kirchen sehen ihre Chance in der Abgrenzung. Im selben Atemzug behaupten sie, sogar die Aufklärung sei Folge des "jüdisch-christlichen Erbes". Das ist nicht nur abstrus, weil fast alles an zivilisatorischem Fortschritt den Kirchen erst abgerungen werden musste, es hat auch einen eifernden Subtext: "Die Anderen" passen eben nicht "zu uns." Ein Echo des Eifers, wie er den großen Monotheismen seit je eigen war, trotz säkularer Tarnung. Noch im Versuch, die Leidenschaften zu zähmen, hofft man auf die Religion: Kein Round Table zur Integrationspolitik ohne Imam, Bischof, Rabbi.

Das ist das 9/11-Syndrom: die Rückkehr der religiösen Identitäten in den öffentlichen Diskurs. Gott schütze uns vor der Renaissance der Religionen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Robert Misik
Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

5 Kommentare

 / 
  • AH
    andreas hörmann

    @Michael: >>Insofern kann ich eine gewisse Wut nachvollziehen, oder zumindest eine Ungläubigkeit, wenn von Seiten der christlichen Kirchen so etwas behauptet wird.

  • AH
    Andreas Hörmann

    @Michel: "Ich denke der Autor wollte damit nur feststellen, dass er es für anmaßend hält, wenn die Kirche versucht einen Großteil der Modernisierung unseres Menschenbildes für sich einzunehmen"

    Als Leser nehme ich den Autro ernst und reagiere darum darauf, was der Autor sagt und spekuliere nicht darüber, was er vielleicht sagen wollte. (Was er will oder wollte entzieht sich meiner Kenntnis.) Er sagte, es sei 'abstrus, die Aufklärung als Folge des "jüdisch-christlichen Erbes" zu beschreiben'. Wie ich ausführlich erläuterte, ist seine Aussage so abenteurlich wie falsch. Da diese zentrale Behauptung falsch ist, sind auch seine Ableitungen falsch.

  • M
    Michael

    Ich denke der Autor wollte damit nur feststellen, dass er es für anmaßend hält, wenn die Kirche versucht einen Großteil der Modernisierung unseres Menschenbildes für sich einzunehmen. Es konnt ihr abgerungen werden, was nicht ein Indiz für Toleranz, sondern auch für Schwäche war. Die Lehren der Kirche, ihre Auffassung der Religion wurde von den Aufklärern und durch die gesellschaftlichen Umstürze widerlegt und sie tat gut daran schnell klein bei zu geben, da sie ansonsten sehr viel mehr Schaden genommen hätte. Was so schön als Säkularisierung bezeichnet wird, ist noch lange nicht abgeschlossen und war letztlich auch zu einem Großteil auf die Bestrebungen des Adels zurück zu führen. Die Kirche hält immernoch enorme Sachvermögen und ihre Meinungsbildende Macht ist in vielen Schichten nicht gebrochen. Sie leistet zwar mittlerweile einige Aufklärung, senkt andererseits aber auch einen Schleier der Unwissenheit über Afrika, indem sie dort die Verhütung verdammt. Insofern kann ich eine gewisse Wut nachvollziehen, oder zumindest eine Ungläubigkeit, wenn von Seiten der christlichen Kirchen so etwas behauptet wird.

  • M
    Matze

    Zum Kommentar von Andreas Hörmann.

     

    Wie "jeder" weiß (bzw. glaubt), sind Muslime letzlich "nur" im Religiösen stecken gebliebene Hinterwäldler. Für dieses Klischee ist das ver-akademisierte Sahnehäubchen die Frage, ob dem Islam vielleicht die innere Möglichkeit zur Säkularisierung fehle.

     

    Und das ist natürlich Unsinn, weil in dem Fall etwa der moderne türkische Staat nie hätte gegründet werden können. Wer behauptet, dies sei doch nur unter dem Eindruck westlichen Säkularismus geschehen, führt o.g. These wiederum ad absurdum, weil er zugeben muss, dass offenbar doch beide Religionen jene "Disposition" zur Weltlichkeit besitzen.

  • AH
    Andreas Hörmann

    Der Autor schreibt, dass die Aufklärung die Folge des "jüdisch-christlichen Erbes" zu beschreiben, sei ?abstrus?. Doch die Aufklärung ist in der Tat ein Ergebnis der jüdisch-christlichen Religion, die letztlich in der Dynamik ihrer eigenen Verweltlichung mündete. Diese Zusammenhänge nennt man Säkularisierung. Und das ist alles andere als ?abstrus?, das ist common sense in der Wissenschaft. Nur weil die Kirche diese wissenschaftlichen Kernaussage teilt, ist die Aussage nicht falsch. Wer das Gegenteil behauptet, unterliegt der Begründungsverpflichtung. Dabei muss er zugleich gute Argumente und den Mut besitzen, z.B. das zentrale Schaffen Max Webers zu entsorgen. Wenn sich der Autor da mal nicht überhebt.

     

    Des Autors Behauptung, mit der er bildungsgeschichtlich hinter das Niveau von Max Weber zurückfällt, also in die Zeit vor 1900, lautet ?fast alles an zivilisatorischem Fortschritt [musste] den Kirchen erst abgerungen werden?. Das zeigt, dass er die dahinterstehende Dialektik in keiner Weise begriffen hat. Die Dialektik der jüdisch-christlichen Kultur nicht zu begreifen bedeutet, nicht zu verstehen, warum die Säkularisierung a) ein spezifisches Moment der monotheistischen Religionen ist und b) warum sich diese Säkularisierungsdynamik eben im Okzident und nicht im Orient so konsequent entwickelte. Wer das nicht begriffen hat, kann auch nicht die Spannungen analysieren, die aus Tradition, Glaube und Moderne entstehen.

    Letztlich materialisiert sich die Säkularisierung in Formen wie Liberalität, Freiheit, Individualität und Menschenrechte. Und die finden sich eben nicht ganz zufällig im jüdisch-christlichen Kulturraum. Dass der Autor von all dem nicht begriffen zu haben scheint, veranschaulicht am besten sein zweifelhafter ?Beweis, dass ?fast alles an zivilisatorischem Fortschritt den Kirchen erst abgerungen werden musste.? Das zu erklärende Phänomen ist, dass es den Kirchen überhaupt abgerungen werden konnte. In anderen Religionen finden wir keine vergleichbares Abringen die eine ähnliche aufklärerische Dynamik in Gang gesetzt hätte. Das sollte dem Autor zu denken geben.

    Am Ende sei angemerkt, dass es sich bei meinen Ausführungen um rein deskriptive Feststellungen handelt, keine Wertungen. Alle Religionen sind gleichberechtigt, keine ist besser oder schlechter als die andere, keine steht über einer anderen.