9. November 1989: Die Mauer ist weg!
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Plötzlich scheint alles normal zu werden. Zum Beispiel, daß das Neue Forum Zeitungsinterviews gibt oder daß neugewählte Politbüromitglieder nach 24 Stunden wieder zurücktreten. Endlich kann man sich wieder um alltägliche Dinge kümmern, Studienangelegenheiten zum Beispiel – nominell bin ich immer noch Student. Plötzlich ist auch wieder Zeit, sich zu amüsieren. Ich gehe am Abend ins Kino.
Als ich nach Hause komme und den Fernseher anstelle, sehe ich einen ARD-Reporter auf einer menschenleeren Westberliner Straße stehen und höre ihn sagen: „Wir erwarten hier in der Invalidenstraße jeden Augenblick die ersten Ostberliner.“ Dann werden aus einem Fernsehstudio ein paar Fragen über die Maueröffnung an ihn gerichtet, und er antwortet, und der Name Schabowski fällt, und alle sprechen im Konjunktiv, und ich verstehe nur noch Bahnhof.
Ich rufe eine Freundin an und frage, ob sie mir erklären könne, was ich da gerade im Fernsehen sehe. Kann sie auch nicht. Angeblich hätte Schabowski am Abend erklärt, die Grenze werde geöffnet. Im Fernsehen ist ständig von den Berliner Grenzübergängen die Rede, also beschließe ich, selber nachzusehen, was da los ist. Ich gehe zur Bornholmer Straße, das ist der nächstgelegene.
Als ich dort ankomme, wälzt sich ein Menschenstrom über die Bornholmer Brücke gen Westen, so breit wie die Straße, endlos. Immer mehr Leute kommen und wollen hinüber. Ein paar Grenzoffiziere betrachten die Szene gequält. Ich gehe zu einem von ihnen und frage stammelnd, ob man denn auch wieder zurück könne, wenn man jetzt geht und fuchtele ihm dabei mit meinem Personalausweis vor der Nase herum. „Das interessiert mich nicht mehr!“ werde ich angeschnauzt. Dann gehe ich nach drüben. Dort, wo die Osloer Straße beginnt, setze ich mich auf einen Kantstein. Mir ist schwindelig. Mir fällt niemand ein, den ich besuchen könnte, ich kehre um, gehe heim und lege mich ins Bett. Wolfram Kempe
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