7.Oktober 1989: Umwege nach Berlin
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Keiner von uns hat Lust, in Berlin zu bleiben, keiner will hier sein, wenn „es“ passiert – was immer „es“ sei. Beim Frühstück sitzen wir mißmutig beieinander. Trotzdem halten wir am alten Reiseplan fest: Sonnabend nach Schwerin. Wenn draußen alles drunter und drüber geht, ist eine innere Ordnung schon von Vorteil, sie schützt vor Unbedachtem, und vor allem überspielt sie eine innere Lähmung.
Der Theaterabend in Schwerin entpuppt sich als eine Art Happening. Es werden zwei Stücke gegeben, umrandet von einer eher kabarettistischen Darbietung alter FDJ-Lieder, zornig und bitterböse vorgetragen. Das Publikum geht begeistert mit: Jede noch so kleine Andeutung, jede noch so kleine Sottise wird dankbar aufgenommen. Alles scheint in diesen Tagen bedeutungsschwanger zu sein: jedes Wort, jede Geste, jede Überraschung. Anders als bei den sonstigen Aufführungen, baut das Schweriner Ensemble die Verlesung diverser Resolutionen direkt in das Programm ein. Ich verlasse das Theater mit einem schalen Geschmack im Mund.
Von den Unruhen in Berlin hören wir im Autoradio auf der Heimfahrt. Wir verlassen die Autobahn. Falls sie Ostberlin abgeriegelt haben, besteht vieleicht noch eine Chance, wenn wir über die Dörfer fahren. Wider Erwarten kommen wir unbehelligt in die Stadt hinein. In Berlin ist das Polizeiaufgebot beträchtlich: An jeder größeren Straßenkreuzung stehen Streifenwagen auf Posten. Die Prenzlauer Allee ist stadtauswärts mit Wasserwerfern und mit Mannschaftswagen mit riesigen Räumgittern blockiert. Die Straßen sind menschenleer. Die Häuser stehen schwarz und schweigend. Flüchtige Nebel wabern zwischen ihnen. Wolfram Kempe
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