70 Jahre Wannsee-Konferenz: Tagesordnung Massenmord
Am 20. Januar 1942 setzten sich 15 Bürokraten in Berlin zusammen und planten in bedrückender Sachlichkeit die "Endlösung der europäischen Judenfrage". Ein Essay.
An menschenverachtenden Konferenzen ist die deutsche Geschichte in den Jahren von 1933 bis 1945 nicht arm. So rief der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels am 10. Juni 1938 sämtliche Vorsteher der Berliner Polizeireviere zusammen und ermunterte sie zum "schärfsten Vorgehen" gegen Juden. "Die Maßnahmen", so der Propagandaminister, "könnten ruhig zur Schikane ausarten".
Nach dem Novemberpogrom diskutierten ein halbes Dutzend Minister über drei Stunden im Luftfahrtministerium, wie man die deutsche Wirtschaft effektiv "arisieren", wie man die Juden noch schneller ins Exil vertreiben könnte. Der Schaden wurde den Betroffenen auferlegt, die Versicherungsbranche profitierte. Hermann Göring meinte: "Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet." Und Goebbels Staatssekretär Leopold Gutterer präsentierte am 15. August 1941 als absurde Begründung für den kommenden gelben Stern, die "hamsternden Juden" hätten den Erdbeermangel des Sommers verursacht.
Diese drei Sitzungen über Alltagsschikane, Beraubung und Stigmatisierung fanden im großen Kreis, in aufgeheizter Atmosphäre und in den Amtsräumen der Einladenden statt. Ganz anders hingegen die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Ihr einziger Tagesordnungspunkt war von historisch einmaliger Ungeheuerlichkeit: der Massenmord an Millionen Menschen - mit Frühstück und Cognac.
Ihren heutigen Namen trägt die damals als "Staatssekretärsbesprechung" titulierte Sitzung wegen des Versammlungsortes. Im Gästehaus des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Am Großen Wannsee 56-58 im Südwesten Berlins konferierten 15 Vertreter aus Ministerialbürokratie, Parteiführung sowie SS und Polizei über die "Endlösung der Judenfrage" in Europa. Eingeladen hatte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei (Gestapo, Kripo) und des SD (NSDAP-Nachrichtendienst). Schon die Wahl des Ortes war Inszenierung: In Ruhe und Abgeschiedenheit, mit Blick auf den winterlichen Wannsee, enthüllte Heydrich die strategische Reichweite von Deportation und Massenmord.
Elf Millionen – grob ausgezählt
Heute vor 70 Jahren trafen sich 15 Männer in einer Villa am Großen Wannsee Nr. 56-58 in Berlin zu einer Besprechung. Ihr einziges Thema: die Organisation von Deportation und Ermordung der europäischen Juden. Doch die Monstrosität dieses verbrecherischen Vorhabens kleideten sie in bürokratische Formulierungen: aus Deportation wurde "Evakuierung", aus der Vernichtung "Endlösung". Keiner der beteiligten Herren hatte etwas gegen den geplanten Massenmord einzuwenden - genauso wenig wie die Millionen Deutschen in Ämtern und Behörden, an der Front und im Hinterland, in Vorstandsetagen und an der Werkbank, die durch ihre aktive Unterstützung oder durch Wegsehen den Holocaust erst möglich machten.
Die taz hat sich dazu entschlossen, zum 70. Jahrestag der sogenannten Wannsee-Konferenz das Protokoll dieser mörderischen Veranstaltung in voller Länge zu publizieren; die Freitagsausgabe der taz am e-kiosk und am Kiosk. . Ergänzt wird der faksimilierte Text durch einordnende Anmerkungen und ein Essay. Das Protokoll ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Veröffentlichung hat keinen Neuigkeitswert. Es geht uns nicht um vermeintliche Sensationen. Aber: Wer von Ihnen hat dieses Protokoll eigentlich jemals gelesen? Wer kennt die genauen Formulierungen in diesem Dokument? Wer weiß, was aus den Männern wurde, die sich vor 70 Jahren trafen?
Die Wannsee-Konferenz markiert den Übergang vom Entschluss der NS-Spitze zur Judenvernichtung hin zu einem bürokratischen Prozess. Es ist dieses Protokoll, das mit seinen Verabredungen zur Aufgabenverteilung deutlich macht, dass nicht allein Adolf Hitler und "die Nazis" die Verantwortung für den Völkermord tragen. Es waren, beginnend mit den 15 Männern in der Villa am Wannsee, ganz normale, spezialisierte Technokraten. Sie stellten die Fahrpläne für die Todeszüge in den Osten auf. Sie erfanden Giftgaswagen. Sie entdeckten Zyklon B als effektives Mittel zum Massenmord.
Wir sollten uns davor hüten, leichtfertige Analogien zwischen den Machern des Holocaust und heutigen Menschenrechtsverletzungen zu ziehen. Die Vernichtung der europäischen Juden entzieht sich der Vergleichbarkeit. Aber das Protokoll der Wannsee-Konferenz macht deutlich, wie Schreibtischtäter, an deren Händen kein Blut klebt, mit ihren Plänen - und ihrer bewusst euphemistischen Sprache - schreckliche Prozesse in Gang setzen können, an deren Ende niemand verantwortlich gewesen sein will. Klaus Hillenbrand
Elf Millionen Juden, so hatte Adolf Eichmann grob auszählen lassen, sollten langfristig "nach dem Osten" verschleppt und dort ermordet werden. Und glaubt man Eichmanns Einlassungen während seiner Haft in Israel knapp 20 Jahre später, so hatte die Atmosphäre auch nichts Aufgeheiztes, nichts Mörderisches. In netter, ruhiger und offener Stimmung hätten die Staatssekretäre unverblümt über die Tagesordnung geredet. Selbst der als penibel geltende "Gesetzesonkel" aus dem Reichsinnenministerium, Wilhelm Stuckart, gab sich gelöster als erwartet.
Mit Bedacht ausgewählt waren auch die Teilnehmer. Alle Versammelten waren informiert über die seit August 1941 begangenen Massenerschießungen im besetzten sowjetischen Gebiet oder waren dienstlich mit der laufenden Deportation der Juden aus dem Großdeutschen Reich in Berührung gekommen. Und gerade hier hatten sich Probleme angekündigt, wenn etwa seitens des Ostministeriums und des Innenministeriums die Richtlinienkompetenz Heydrichs angezweifelt worden war. Oder wenn Deportierte aus der Zwangsarbeit herausgerissen worden waren, ohne auf deren Fachausbildung und Ersatz zu achten.
An den Zielen der Transporte waren ebenfalls Proteste laut geworden, weil die Ankunft zehntausender Juden aus deutschen und besetzten Städten zu unvermittelt und ohne Reaktionsmöglichkeiten geschah. Im litauischen Kaunas und im lettischen Riga hatte man daraufhin über deutsche 6.000 Juden erschossen - ohne dass ein Befehl hierfür vorlag. Heydrichs Besprechungsrunde war daher ganz auf die aufgetauchten Probleme zugeschnitten und nicht auf eine Beschlussfassung zum Holocaust. Sie hatte jedoch Kompetenzen zu klären und den Ausblick auf die langfristige europäische Dimension zu bieten.
Zwei Überlieferungsstränge sind es, die bis heute das Treffen als harmonisch verlaufende Sitzung bezeichnen: die dokumentarische und die zeugenschaftliche. Folgt man der zusammenfassenden Niederschrift der Sitzung, die im Frühjahr 1947 in den Akten des Auswärtigen Amts aufgefunden wurde, so erhob sich kein Widerspruch mehr bei der Feststellung Heydrichs, die "Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage liege ohne Rücksicht auf geographische Grenzen zentral" bei Himmler und ihm.
Und auch die bisher umstrittene Frage, ob die sogenannten Mischlinge 1. Grades - also Menschen mit zwei jüdischen Großelternteilen - den Juden (mit drei und vier jüdischen Großeltern) gleichgestellt werden sollten, erscheint im Text nur als einvernehmlicher Kompromiss: ihre Zwangssterilisation. Aus dem die Niederschrift begleitenden Schreiben vom 26. Februar 1942 erfährt man, die "Grundlinie" der Massenmordstrategie sei jetzt "erfreulicherweise" in allgemeiner Übereinstimmung festgelegt, so dass man in die Detailbesprechungen gehen könne. Diese sollten dann aber zeigen, dass man sich hinsichtlich des Schicksals von zehntausenden Menschen eben nicht einig war.
Hilfskraft Eichmann
Die zeugenschaftlichen Quellen zum Verlauf der Konferenz sind ebenfalls nicht einfach zu bewerten. Eichmanns Interesse bei seinem Prozess in Jerusalem war es gewesen, sich als untergeordneten Befehlsempfänger zu präsentieren. Das war schwierig, weil sein Name unter den Anwesenden vermerkt war und Heydrich auf ihn als zuständigen Referenten verwiesen hatte. Mit der Beschreibung kooperierender Entscheidungsträger konnte er seine Rolle als "Hilfskraft für Ziffern und Statistiken" verkleinern. Von ihm stammte auch die Angabe, das Ganze hätte nur etwa 90 Minuten gedauert. Die Nachkriegsaussagen von Leibbrandt, Stuckart, Neumann, Bühler, Klopfer und Kritzinger sind aus unterschiedlichen Gründen problematisch.
So nannte Josef Bühler 1946 die Zusammenkunft ganz taktisch eine Sitzung über Aussiedlungen nach Polen, bevor das Protokoll überhaupt gefunden worden war. Die anderen mochten sich später nicht an den Verlauf erinnern und stritten das Thema ab. Eine Konferenz über die Ansiedlung und den Arbeitseinsatz von Juden im Osten sei das Treffen gewesen - keine Rede von Massenmord; das Protokoll, das sie nicht kennen wollten, bezeichneten alle als sachlich unzutreffend. Der letzte, der so argumentierte, war der Ulmer Rechtsanwalt Gerhard Klopfer vor der Staatsanwaltschaft seiner Heimatstadt. Ende Januar 1962 wurde das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt.
So bleiben die Historiker zurückgeworfen auf die Quelle und die Notwendigkeit, das gesamte Umfeld der Staatssekretärsbesprechung zu durchleuchten. Seit Jahrzehnten findet dies statt, und die Kontextualisierung des Treffens ermuntert zu fast diametralen Interpretationen. Es lassen sich gute Gründe finden für den Befund, Hitler habe am Tag nach seiner Kriegserklärung an die USA während einer geheimen Reichs- und Gauleitersitzung am 12. Dezember 1941 seinen Entschluss zum aktiven Mord an den europäischen Juden als angeblichen Partisanen des "Weltjudentums" verkündet.
Hitlers Siegesgewissheit
Damit hätte er seine Drohung vom Januar 1939 umgesetzt: Ein neuer Weltkrieg werde "die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" bedeuten. Andere Interpretationen betonen Hitlers Siegesgewissheit im Oktober 1941, die ihn zu folgenschweren Entschlüssen getrieben hätte. Will man hingegen die deutsche Besatzungspolitik in Polen seit 1939 als Start einer judenfeindlichen Politik der Vernichtung sehen, so lassen sich radikalisierende Etappen hin zum aktiven Massenmord auch über den Konferenztermin hinaus finden, ohne ein Entscheidungsdatum festlegen zu müssen.
Ob Hitler nun in Siegeseuphorie oder angesichts des Weltkrieges entschied oder den Massenmord gar noch später absegnete, das gerät in anderer Perspektive zur zweitrangigen Frage. Die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz entstammten der jüngeren Generation, fast alle hatten akademische Bildung. Für diese junge NS-Elite gerannen selbst die blutigsten Neuordnungsvisionen zu reinen Machbarkeitsfragen. Das Protokoll in seiner Verwaltungssprache ist auch ein Beleg für die Gefahren, die unter solchen Voraussetzungen in modernen Industriegesellschaften lauern. Deren funktionale Ausdifferenzierung ermöglicht es, kleine entmoralisierte Beihilfehandlungen in nüchterne Formulierungen zu kleiden. Beamte, Angestellte, Funktionsträger tun, was sie immer tun, und ihre hoch arbeitsteilige, bürokratische Routine verdeckt den Anteil an Verbrechen umso stärker, je entfernter sie vom Tatort agieren. Diese Tarnsprache enttarnt sich, wenn man das Protokoll heute liest.
Peter Klein, promovierte Historiker (geb. 1962), arbeitet bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. 2003/04 zuständig für die Betreuung der zweiten "Wehrmachtsausstellung". Historischer Gutachter und Mitherausgeber von Quelleneditionen. Wissenschaftlicher Berater der neuen Dauerausstellung im Berliner Haus der Wannsee-Konferenz.
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