60 Jahre Erklärung der Menschenrechte: Merkel besetzt wieder mal Tibet
Den Tag der Menschenrechte begeht die Kanzlerin zusammen mit dem Kanzlerkandidaten der SPD. Sie gibt die menschelnde Moralistin, er den knallharten Pragmatiker.
In diesem Haus bleiben Sozialdemokraten normalerweise unter sich. In dem kreisrunden Saal der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung treffen sich sonst Stipendiaten, werden politische Bücher diskutiert, alle denkbaren Themen aus SPD-Perspektive gewälzt. Das Gebäude wurde gebaut als steingewordener Machtanspruch der Partei in Berlin, gleich gegenüber steht die Landesvertretung der einstigen Hochburg Nordrhein-Westfalen.
Nur auf den ersten Blick ist an diesem Mittwoch alles wie immer. Stiftungschefin Anke Fuchs hält ihre gewohnt einschläfernde Vorrede. In der ersten Reihe nicken weg: DGB-Chef Michael Sommer, IG-Metall-Chef Berthold Huber, SPD-Chef Franz Müntefering, Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier.
Doch es hat sich ein Fehler eingeschlichen in das Suchbild. Zwischen Parteivorsitzendem und Kanzlerkandidaten hat sich eine Dame platziert, die eigentlich nicht hergehört: Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Chefin der Christdemokraten. Zum ersten Mal ist sie bei der Stiftung der Konkurrenz zu Gast.
Es ist ein Bekenntnis zur großen Koalition. Ein subtiles Zeichen, dass es für die Kanzlerin Schlimmeres gäbe als deren Fortsetzung über das kommende Jahr hinaus. Merkel sagt, sie wolle gerne wiederkommen. "Wir könnens ja so ausmachen: Immer wenn Herr Steinmeier einmal bei der Adenauer-Stiftung war, komm ich einmal zur Ebert-Stiftung."
Merkel hat sich für den Besuch ein scheinbar unverfängliches Thema ausgesucht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird 60 Jahre alt, die Ebert-Stiftung hat gemeinsam mit Amnesty International zum Empfang geladen - der wohl unverfänglichsten Organisation der Republik, parteipolitisch neutral, allseits angesehen.
Erst redet Steinmeier, dann Merkel. Beide reden über das Spannungsverhältnis von Menschenrechts- und Interessenpolitik, beide denken dabei vor allem an China und an Russland. Aber sie setzen die Akzente deutlich anders. Sie erlauben einen Blick auf die tektonische Bruchlinie, die sich seit Beginn der großen Koalition unter dem Sockel der deutschen Außenpolitik verbirgt.
Merkel gibt sich keine Mühe, den Dissens kleinzureden. "Jeder hier im Raum weiß, dass es zwischen mir und dem Außenminister einen Disput gab um den Empfang des Dalai Lama", sagt sie. "Solche Dispute wird es immer geben." Sie führt ihre Identität als Frau und als Ostdeutsche ins Feld. Sie redet über den Mut früherer DDR-Bürger, aber auch der Westdeutschen im Umgang mit dem SED-Regime - ein Thema, das für Sozialdemokraten eher heikel ist.
Sie spricht von Zwangsverheiratung und davon, dass man Menschenrechte nicht mit Traditionen relativieren dürfe. Ganz am Schluss wird sie noch deutlicher. "Wir dürfen uns im Charakter von Unrechtsregimen nicht täuschen", sagt sie. "Sie testen uns." Deshalb müsse man im Umgang mit ihnen versuchen, "immer wieder an Grenzen zu gehen". Das hat sie auch getan, als sie während des Kaukasuskonflikts im Sommer vom georgischen Nato-Beitritt sprach. Nicht alle Aktivisten für die Menschenrechte, die im Saal jetzt applaudieren, waren damals begeistert.
Die Sache des Außenministers ist das ohnehin nicht. "Moralische Rigoristen prallen mit politischen Pragmatikern zusammen", sagt er, es gelte, "diese Verkeilung aufzuheben". Das soll neutral klingen. Doch die Wortwahl zeigt, wo Steinmeier steht. Wer ist schon gerne Rigorist, wenn es auch pragmatisch geht? Damit auch keine Frage offen bleibt, zitiert der Minister zustimmend einen Zeitungskommentar: "Die Kerze im Fenster für die Menschrechte wärmt vor allem uns selbst."
Im Saal der Sozialdemokraten sitzen an diesem Tag eher die Kerzenanzünder. Und wundern sich schon wieder über einen Fehler im Suchbild.
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