5.Oktober 1989: Chinesische Lösung?
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Wir fahren zur Premiere von Christoph Heins Stück „Transit“ nach Zeitz. Karten bekommen wir nur, weil die Offiziere der NVA-Garnison in der Stadt ihr Kartenabonnement für diesen Tag zurückgegeben haben. Sie sind in Alarmbereitschaft versetzt worden und müssen in der Kaserne bleiben, erklärt die Frau in der Vorverkaufsstelle.
Die Aufführung ist schlecht. Wir pöbeln herum, lachen unverhohlen an den peinlichsten Stellen. Die Anspannung der letzten Tage muß irgendwie heraus.
Unterkunft haben wir an diesem Abend in Leipzig bei einem Bekannten, der im Organisationskomitee der Montagsdemonstrationen mitarbeitet. Als wir aus Zeitz zurückkehren, geraten wir in eine Diskussion über das Vorgehen am 7.Oktober. Die Frage ist, ob demonstriert werden soll oder nicht. Ich bin gegen Demonstrationen, weil ich fürchte, daß die alten Männer im Politbüro, wenn sie nicht in Ruhe ihr Jubelfest feiern können, wie getretene Hunde wütend um sich beißen. Seit dem Zuspruch der SED- Führung für die chinesischen Genossen im Frühsommer ist auch hier immer öfter von einer „chinesischen Lösung“ der inneren Spannungen die Rede. Ich bin davon überzeugt, daß die führenden Genossen auch hier schießen lassen werden, wenn ihnen die Sache über den Kopf wächst. Außerdem erscheint mir die „Opposition“ in der DDR viel zu schwach. Auf der einen Seite steht ein lose zusammengewürfelter Haufen von Intellektuellen, auf der anderen Seite ein straff organisierter, bewaffneter Apparat. Am Ende der Diskussion wird ein Aufruf gegen Gewalt verfaßt. Bevor er fertig ist, redet man fast eine Stunde über „das sprachliche Binnenklima unseres letzten Aufrufes“. Wenn das die Sorgen der Opposition sind... Seit heute abend habe ich Angst. Wolfram Kempe
Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
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