50 Jahre Gedächtniskirche: Der Niedergang der Weststadtikone
Die neue Gedächtniskirche wird 50 Jahre. Egon Eiermann, ein Stararchitekt der DDR, hatte das Wahrzeichen der City West gegen den Protest vieler Berliner realisiert. Heute bedrohen Hochhäuser die Stadtikone.
Zufall oder Absicht? Der "Hohle Zahn", wie die berühmte Berliner Schnauze die Kirchturmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche taufte, hat sich derzeit hinter einer merkwürdigen Baustellenverkleidung versteckt. Die Hülle besteht aus Aluminiumplatten, die mit Motiven einer Hochhaus- oder Plattenbaufassade bedruckt sind. Dass Touristen vor dem verpackten Kirchturm oft mit ratlosen Gesichtern stehen bleiben, ist auch Pfarrer Martin Germer aufgefallen. Wo denn das Berliner Wahrzeichen vom Breitscheidplatz geblieben sei, ob es Christo verhüllt habe, es zum Bürohaus umgebaut werde, haben einige gefragt. Die Antwort: Bis 2012 bleibt der alte Turm verkleidet, bis dahin wird er für rund fünf Millionen Euro saniert.
Sinnbild gegen Krieg
Die Aufmerksamkeit gehört so ganz der "neuen Gedächtniskirche" am Breitscheidplatz, die jetzt ihr fünfzigjähriges Bestehen feiert. Im Oktober 1961 war die von Egon Eiermann geplante Kirche mit Turm und Kapelle fertiggestellt und im Dezember geweiht worden.
Zahlreiche Diskussionen, Zeitzeugengespräche, Musikveranstaltungen und Gottesdienste zum 50. Jubiläum der neuen Gedächtniskirche finden bis in den November hinein in Berlin statt.
Den Auftakt macht am 21. und 22. Oktober ein großes Architektursymposium zur Kirchengeschichte und zu Egon Eiermann.
Der Berliner Werkbund zeigt anlässlich des Geburtstags die Ausstellung "Egon Eiermann Standards". Am 1. November berichten Zeitzeugen in der Gedächtniskirche aus jener Zeit des Neubaus. (rola)
Infos: www.gedaechtniskirche-berlin.de; www.egon-eiermann-gesellschaft.de; www.werkbund-berlin.de
Seit ihrer Eröffnung und Nutzung als City-Gemeindekirche war die prägnante Architektur der Nachkriegsmoderne für den Berliner Westen immer mehr als nur ein Kirchenbau. Sie avancierte zum Sinnbild gegen Wilhelminismus, gegen Krieg und Gewalt und repräsentierte das Gesicht des modernen, freien Berlins.
Diese Bedeutung spiegelt die Gedächtniskirche bis heute: Sie ist der Magnet für Besucher des Kurfürstendamms, Kulisse für Demonstrationen und Feste. Das Ensemble von Egon Eiermann steht unter Denkmalschutz, gilt als Zeichen der Versöhnung, und der Berliner Volksmund hat dem "Hohlen Zahn" den Ausdruck "Lippenstift mit Puderdose" liebevoll zur Seite gestellt. Wim Wenders hat die Kirche in seinem Film "Himmel über Berlin" fast mythisch überhöht. Der Umgang mit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz spielt für die City-West und die dortige Stadtentwicklung eine wesentliche Rolle, sie ist bis dato ein gewichtiger Sensor für die städtischen Prozesse.
Zur Geschichte der neuen Gedächtniskirche gehört, dass es sie beinahe nicht gegeben hätte. Der Altbau kam dem neuen Berlin gleich zweimal in die Quere: In den 1920er-Jahren war diskutiert worden, die 1895 zur Erinnerung an Wilhelm I. errichtete Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche abzureißen. Der neoromanische Bau mit den markanten fünf Türmen von Franz Schwechten (Architekt des Anhalter Bahnhofs) stand der Verkehrsplanung am Eingang zum Kurfürstendamm im Wege. Die Insel samt Kirche galt als altmodische Blockade der neuen Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Ende der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erneut auf der Tagesordnung. Im November 1943 war der Bau nach einem Bombenangriff teilweise zerstört worden, das stark einsturzgefährdete Kirchenschiff und der Chor mussten nach 1945 abgetragen werden. Zurück blieb die Turmruine, einen Wiederaufbau des Gotteshauses unterstützten die Alliierten nicht.
Dass Egon Eiermann den Neubau seiner Kirche überhaupt realisieren konnte, verdankte er dem Einfluss Otto Bartnings, Architekt, Freund von Walter Gropius und Bauhaus-Mitinitiator. Bartning stand damals der Jury vor, die 1957 den Architektenwettbewerb zum Neubau der Kirche ausgelobt und den Eiermann mit seinem avantgardistischen Entwurf gewonnen hatte.
Protest gegen Abriss
Als es Protestschreiben der Berliner an die Kirchenleitung, den Senat und selbst an Eiermann wegen des Entwurfs und des Turmabrisses hagelte, leistete Bartning Überzeugungsarbeit und handelte einen Kompromiss aus: Die Turmruine sollte bleiben und Eiermanns neue Gedächtniskirche in ihrer klaren modernen Architektursprache in Dialog zum Altbau treten. Es sollte "kein Experiment werden", sondern "gute Architektur entstehen", die die unterschiedlichen Baustile in Beziehungen treten lässt, so Bartning.
In der ansteigenden und wieder fallenden Aneinandereihung von Kapelle, Turm, Altbau, Kirche und Foyer auf einem Podest gelang Eiermann ein kompaktes Gemeindezentrum sowie eine moderne Kirchenlandschaft samt Gedenkstätte am Breitscheidplatz. Die fragile 71 Meter hohe Ruine wird von den Neubauten quasi gestützt, umgeben und dominiert von vier gut komponierten Baukörpern - dem oktogonalen Kirchenschiff, einem rechteckigen Foyer, dem schlanken Glockenturm sowie der fast quadratischen Kapelle.
Charakteristisch für die neue Gedächtniskirche waren nicht allein die abstrakten Figuren und modernen Materialien aus Beton und Stahl, die offene Ensemblefigur und die klaren geometrischen Formen und Räume, sondern ebenso die Bezüge zur Kirchenbaugeschichte. Eiermann zitierte den achteckigen berühmten Krönungssaal Karls des Großen im Aachener Dom.
Geradezu historisch illuminiert wird das gesamte Innere des Zentralbaus von den 16.000 blauen und roten unikalen Glasfenstern, deren Licht an die Rosetten der Kathedrale von Chartres erinnern und tagsüber den 25 Meter hohen Raum rundum in die vorwiegend blau getönte und meditative Atmosphäre tauchen. Eiermann gewann für die wabenartigen Kirchenfenster den französischen Glaskünstler Gabriel Loire - aus Chartres. Und so schnittig, ja abstrakt, Eiermanns Entwürfe für den Altar, das Kreuz darüber und die Orgelempore schließlich sind, so sehr lassen sie auch an gotische Formen denken, die der Architekt aufgenommen hat.
Der Architekt und Hochschullehrer Eiermann (1904 bis 1970) - der auch die Deutsche Botschaft in Washington D.C. (1964), das Hochtief-Hochhaus in Frankfurt (1968) oder den "Langen Eugen", das bekannte Bürohochhaus für die Parlamentarier in Bonn (1969), entwarf - bezeichnete einmal die Gedächtniskirche als sein "Lebenswerk. Mit der Kirche steht und fällt meine Beziehung zu dem gleichen Bekenntnis, das uns alle miteinander verbindet."
Westberliner Landmarke
Heute, 50 Jahre nach der Fertigstellung, zeigt die Idee des Kirchenensembles Schrammen. Damit ist weniger der "Skandal" gemeint, den die einstige Gemeindepfarrerin Sylvia von Kekulé im Jahr 2000 auslöste. Sie ließ den Turm mit einem Claudia-Schiffer-Plakat zwecks Geldeinwerbung für die Renovierung verhängen. Vielmehr geht es um das Innere der Kirche, die mit viel Mobiliar verändert wurde. Zudem ächzt die Fassade unter dem Zahn der Zeit. Der Neubau muss saniert werden. Die frühere Eingangshalle des Altbaus wurde 1987, zur 750-Jahr-Feier Berlins, in einen Gedenk- und Ausstellungsraum über die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs umgebaut. Eines der zentralen Exponate ist das Nagelkreuz der Kathedrale von Coventry als Zeichen der Versöhnung.
Am deutlichsten jedoch erschreckt der Niedergang der Gedächtniskirche als Stadtkrone für die City West. Eiermann hatte noch geplant, dass der neue Bau von allen Zufahrtsstraßen zum Breitscheidplatz aus einsehbar bleibt. Die Gedächtniskirche sollte alle Perspektiven auf sich ziehen. War dies mit dem Umbau des Breitscheidplatzes, der Errichtung des Europa Centers und Schimmelpfenghaus-Riegels in den 1960er Jahren bereits vorbei, so entwerten heute, zum 50. Geburtstag, die Hochhauspläne den Standort massiv. Schon jetzt rückt das "Zoofenster" der Kirche gefährlich nahe, weitere Hochhäuser werden sie erdrücken. Die typische Westberliner Landmarke droht aus der Stadtsilhouette gelöscht zu werden.
Die Berliner Landespolitik, welche die Dominante noch bis in die 1990er Jahre stets als Wahrzeichen Berlins respektiert und bauliche Entwicklungen im Umfeld immer auf jenes bezogen hat, scheint diese Haltung vergessen zu haben. Der 50. Geburtstag der neuen Gedächtniskirche ist ein guter Anlass, sie daran zu erinnern.
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