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4. November 1989Berlin-Alexanderplatz

■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie

Gegen acht Uhr morgens treffe ich mich mit Freunden in meiner Wohnung. Kurz danach brechen wir auf, schultern unser Transparent und laufen zum Alex. Die Luft ist kalt und feucht. Ich bin aufgeregt und nervös. Wir sprechen kaum miteinander, sehen uns kaum an. Überall kommen Leute aus den Hauseingängen: kleine Gruppen, wie wir mit zusammengerollten Transparenten oder Schildern, Familien mit Kindern, Ältere, Jüngere. Alle haben das gleiche Ziel.

Als wir auf die Prenzlauer Allee einbiegen, ist es schon ein dichter Strom von Fußgängern. Daß sich so viele Menschen auf den Weg machen, beruhigt mich ein bißchen. Trotzdem fühle ich mich immer noch wie auf dem Weg zu einem Staatsexamen. Vor dem Berliner Verlag erreichen wir das Ende der wartenden Menge. Der Anfang des Demonstrationszuges ist nicht zu sehen, die Kreuzung Liebknechtstraße/Memhardstraße ist mit Menschen dicht gefüllt. Wir entrollen probeweise unser Transparent und stellen fest, daß es doch schwerer zu tragen sein wird, als wir uns das vorgestellt hatten. Dann warten wir. Als ich mich einmal umwende, entdecke ich, daß in der Zwischenzeit auch die Steigung zum Prenzlauer Berg hinauf vollständig mit Menschen gefüllt ist.

Kurz nach zehn verbreitet sich von vorne her die Parole: Es geht los. Trotzdem dauert es noch einige Zeit, bis auch wir uns in Bewegung setzen. Die Menschen sprechen nur leise miteinander. Interessiert beobachtet man, was die anderen so mit sich herumschleppen. Eltern lesen ihren Kindern die Aufschriften von Transparenten und Plakaten vor. DDR- Fahnen werden geschwenkt, auch rote Fahnen sind zu sehen. Am Pressecafé hat jemand ein großes Honecker-Porträt angebracht und darunter ein Papier mit der Aufschrift „Watschenmann“ geheftet. Erstes Gelächter kommt auf, die Stimmung wird besser. Polizisten sind immer noch nicht zu sehen.

Gegen Mittag erreichen wir den Palast der Republik. Das Kabel der Beobachtungskamera gegenüber der Volkskammer ist durchgeschnitten. Grinsend machen sich die Menschen gegenseitig darauf aufmerksam. Immer wieder erschallen Sprechchöre. „Keine Gewalt“, wird gerufen, aber es ist gar keiner da, an den sich diese Forderung richten könnte. „Demokratie, jetzt oder nie“, rufen andere, doch auch im Parlament ist niemand, um das zu hören.

Die Balustrade des Palastes zum Marx-Engels-Platz hin quillt vor Menschen über. Das Volk zieht am Volk vorbei und winkt sich fröhlich zu. Oben wird ein Plakat hochgehalten, auf dem eine Karikatur des ewig grinsenden Krenz zu sehen ist und auf dem steht: „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ Unten wird gelacht und geklatscht. Die Stimmung wird immer ausgelassener.

Leute sprechen uns an, weil sie die Forderung nach einer Räterepublik auf unserem Transparent gut finden. Sie erzählen, daß sie Trotzkisten aus Westberlin seien und sich wunderten, warum sowenig politische Forderungen gestellt würden. Erstaunt frage ich, ob sie vor lauter Schildern den Inhalt nicht sähen. Auf eine Diskussion habe ich keine Lust, bin aber froh, als einer von ihnen anbietet, mir für eine Weile das Transparent abzunehmen.

Mit wie vielen Menschen wir auf der Straße sind, ist unmöglich festzustellen. Als wir über die Mühlendammbrücke gehen, sehe ich, daß auch über die Rathausstraße Menschen dichtgedrängt zum Alex gehen. Als wir endlich dort ankommen, werden bereits die ersten Reden gehalten. Vertreter von Partei und Staat werden gnadenlos ausgepfiffen, alle anderen erhalten stürmischen Applaus. Bis auf Heiner Müller, der einen Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften verliest und das Streikrecht einfordert. Während er spricht, werden die Buhrufe immer lauter. Mich beunruhigt die Situation, denn ich finde ganz vernünftig, was er da vorträgt.

Abends betrachte ich im Fernsehen mit angehaltenem Atem die Luftaufnahmen von der Abschlußkundgebung. Die Reporter sprechen von knapp einer Million Menschen. Jetzt ist nichts mehr aufzuhalten. Wir haben gewonnen. Wolfram Kempe

Siehe auch Seite 28

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