28. Oktober 1989: Zwei Veranstaltungen
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Langsam weiß ich nicht mehr, wo ich zuerst hingehen soll. Im Deutschen Theater soll am Abend aus den Erinnerungen Walter Jankas gelesen werden – neben Harich das prominenteste Opfer des DDR-Stalinismus. Von Freunden im Schriftstellerverband weiß ich, daß es eine Veranstaltung in der Lichtenberger Erlöserkirche geben wird, auf der unter dem Motto „Gegen den Schlaf der Vernunft“ über die Verhaftungen vom 7./8. Oktober gesprochen werden soll. Hin- und hergerissen fahre ich am Abend schließlich nach Lichtenberg.
Auf dem Podium in der völlig überfüllten Kirche sitzen tatsächlich nur Schriftsteller. Neben Wolf, de Bruyn, Hein, Müller, Hermlin und anderen aus dem Berliner Verband spricht auch Stefan Heym. Ruhig und klar redet er über den Charakter, den die Grenze in Zukunft haben solle: Allein Zollgrenze, nicht mehr unüberwindliches Hindernis solle sie sein.
Zwischen den Statements der gelehrten Damen und Herren treten ganz gewöhnliche Leute ans Mikrofon und erzählen in einfachen Worten, was ihnen am 7./8. Oktober zugestoßen ist. Bei diesen Schilderungen wird es in der Kirche totenstill. Von Geruchskonserven ist die Rede. Stoffetzen, die den Menschen aus der Kleidung geschnitten worden sind, um später für die Spürhunde was zu haben. Christa Wolf verlangt, daß eine unabhängige Untersuchungskommission die Ereignisse untersuchen soll. Ich verlasse die Kirche wie betäubt. Was alles kommt denn noch ans Licht? Wolfram Kempe
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