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Archiv-Artikel

24 stunden spreebogen, folge 22 Von 21 bis 22 Uhr

Ne. Heute keine Lust herumzulaufen. Schließlich ist es kalt geworden. So schön ein nächtlicher Spaziergang im Sommer auch ist, im nasskalten Spätherbst muss man schon einen guten Grund haben (joggen, Gassi gehen, unaufschiebbares Beziehungsgespräch), sich am Berliner Spreebogen spät herumzutreiben. Reporterehrgeiz allein reicht auch nicht immer. Nächste Woche wieder! Aber diese Stunde sei einmal dem Laisser-faire und der Dekadenz gewidmet.

Letzteres ist gar nicht so einfach. Spreebogen und Regierungsviertel sind ziemlich mainstreamig. Offenheit, moderne Bürgernähe, an Feiertagen auch mal Volksfestfreuden – nichts soll elitär oder abgehoben wirken. Anbiedernd zwar auch nicht. Aber Luxus sucht man auf dem Gelände vergebens.

Eine Ausnahme gibt es: die Austernbar im Hauptbahnhof. Von Geschäftsmenschen gern frequentiert, ist sie sonst noch ein Geheimtipp. Man sitzt spektakulär! Wobei man sich entscheiden muss. Entweder setzt man sich auf die Innenseite und blickt auf das Treiben im Hauptbahnhof, was in etwa so wirkt, als sitze man im Aquarium und blicke auf vorüberhastende Menschen. Die großen Glasscheiben sind erstaunlich schalldicht; man erschrickt geradezu, wenn man die Bar wieder verlässt und vom Lärm der Züge und Reisenden sofort empfangen wird.

Oder man setzt sich an die Außenseite und speist mit Blick über Spree, Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus. Besonders schick ist das, wenn man hinter allen Mauern Aufregung vermutet, so wie diese Woche rund um den Müntefering-Rücktritt. Und die Austern sind klasse! Fine de Claire, Papillon, Sylter Royale, Irische Felsenauster, Tsarskaya, Belon werden engagiert, freundlich und kompetent serviert, dazu ein Glas Picpoul de Pinet. Dekadenz kann Spaß machen, wenn draußen ein scharfer Wind weht – im wörtlichen wie im übertragenen politischen Sinn. Davon im Kollegenkreis zu erzählen, ist allerdings nicht in jedem Fall empfehlenswert. Man wird durchaus auch mal befremdet angeguckt, wenn man ansetzt, über den Unterschied zwischen der wild-salzigen Sylter Royale und der üppigen und nussigen Tsarskaya zu dozieren. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 22 bis 23 Uhr: am 24. 11.