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Archiv-Artikel

24 stunden spreebogen, folge 11 Von 10 bis 11 Uhr

Ungewöhnlich spinatgrün sieht das Wasser der Spree heute aus; man sieht halt nicht zweimal auf denselben Fluss. Vorm Hauptbahnhof wird ein provisorisches Sportstadion wieder abgebaut. Am vergangenen Wochenende war mit einem Beachvolleyballturnier die Spaßgesellschaft ins Regierungsviertel eingebrochen. Ich bin auf dem Spaziergang dieser Woche aber in Sachen Deutschlandflagge unterwegs.

Man sieht sie von Balkonen flattern und aus Fenstern hängen – auf Fotos, die auf die langen, nackten Betonwände geklebt sind, die die obere der beiden Spreepromenaden auf der Kanzleramtsseite begrenzen. Offensichtlich wurden die Fotos – Schnappschüsse aus flaggenseligen WM-Zeiten – sehr sorgfältig gehängt. Man sieht noch den langen Bleistiftstrich, der die gemeinsame Höhe der Bilder garantieren sollte. Inzwischen nagte aber der Zahn von Zeit, Regen und Souvenirsammlern an der Ausstellung. Viele Fotos sind beschädigt, andere wurden geklaut.

Natürlich gleich die Frage im Kopf: Was sagt das jetzt über unser Nationalgefühl, über Patriotismus, Deutschsein usw.? Sobald man aber hinguckt, verfängt man sich eher in schönen Details. Wie vielfältig diese Deutschlandflaggen aussehen! Sehr hübsch: eine selbst genähte Flagge, die aus einer Hartz-IV-Wohnung hängt; das Gold glänzt wirklich golden, nicht gelb wie sonst immer. Auch hübsch: kleine Deutschlandflaggen in einem Restaurant mit dem Schriftzug „Indische Spezialitäten“ oder, auf einem anderen Bild, die Deutschlandflagge direkt neben der Zedernflagge des Libanon.

Ein interessanter Effekt: Man befindet sich im politischen Zentrum der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Erde, und das zentrale politische Symbol dieses Landes fällt einem nur gleichsam zitiert in einer ethnologisch orientierten Fotoserie auf. Natürlich ist der Reichstag schwarzrotgold beflaggt. Aber das ist es auch schon. Und die zentrale Flagge des Geländes ist die Schweizer Flagge, die mittendrin lustig auf dem Dach der Schweizer Botschaft weht. Wie undeutsch das Regierungsviertel doch ist! Es wirkt in vielem eher exterritorial als national. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 11 bis 12 Uhr: am kommenden Samstag