24. Oktober 1989: Auf der Straße
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Während ich vor dem Fernseher sitze, um die obligaten fünfviertel Stunden Abendnachrichten zu sehen, dringt durch die offenen Fenster Lärm zu mir herauf. Schließlich merke ich, daß da auf der Dimitroffstraße Sprechchöre gerufen werden. Ich stürze hinunter auf die Straße und stehe vor einem langen Demonstrationszug. Demonstriert wird gegen die Ernennung von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Gegen diese neuerliche Ämterhäufung bei der SED war schon gestern großer Unmut laut geworden.
Ich reihe mich kurz vor dem Ende des Zuges ein. Auch ich rufe: „Bürger laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ Polizei ist kaum zu sehen. Am Ende des Zuges fahren zwei Streifenwagen mit blinkenden Rundumleuchten. Auf der Prenzlauer Allee ertönt plötzlich die Durchsage: „Werte Bürger, wir bitten Sie, die Straßenbahngleise nicht zu betreten, dort besteht Verletzungsgefahr.“ Wir werten Bürger sehen uns kurz an und brechen dann in schallendes Gelächter aus. Ich bekomme eine Gänsehaut: in nicht einmal zwanzig Tagen sollte es gelungen sein, dem Sicherheitsapparat die Zähne zu ziehen? Als wir am Palast der Republik vorbeikommen, sehe ich dort einen hohen FDJ- Funktionär stehen, der den Zug kopfschüttelnd beobachtet. Hochgefühl packt mich. Der Staatsrat ist von einer Polizeikette umstellt. Die Menschen lassen sich auf dem Marx-Engels-Platz nieder. Sprechchöre schallen durch die Nacht: „Wir sind keine Fans von Egon Krenz!“ Meine nagenden Zweifel verfliegen wie ein schlechter Traum. Wolfram Kempe
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