1.800 Skelette in polnischer Baugrube: Ein mysteriöses Massengrab
Im nordpolnischen Malbork, dem früheren Marienburg, ist ein Grab mit rund 1.800 Skeletten entdeckt worden. Noch rätseln die Behörden, wer dort von wem und warum getötet wurde.
Dem schmächtigen Polen in seinem grünen Overall stehen die Tränen in den Augen. Er hält einen Kinderschädel in den Händen. Lehm klebt daran. Wahrscheinlich war es ein deutsches Kind, das hier gegen Kriegsende ums Leben kam. Vorsichtig legt er den kleinen Schädel auf die schwarze Plastikplane auf dem Boden.
Dort liegen bereits Knochen von anderen Kindern, von Frauen und Männern. Er dreht sich schweigend um, sieht die Baugrube mit dem Massengrab vor sich und dahinter die berühmte Kreuzritter-Trutzburg von Marienburg, dem heutigen nordpolnischen Malbork. Über 1.800 Skelette haben er und seine Kollegen in den letzten Wochen geborgen. An dieser Stelle soll ein Luxushotel entstehen.
"Wahrscheinlich sind noch rund 50 Leichen im Boden", erklärt der Archäologe Zbigniew Sawicki, der die Exhumierung leitet. "Wir haben Frauen, Kinder und Männer gefunden. Alle ohne Kleidung", berichtet er. "Rund 100 Tote weisen Schussverletzungen auf, 20 bis 30 davon Kopfschüsse." Doch nichts Metallisches wurde gefunden. Keine Kugel, keine Brillen, kein Zahnprothesen, keine Ringe. Nichts, was bei einer Identifizierung der Opfer helfen könnte. "Viele dieser Menschen könnten im Winter 1945 in der umkämpften Stadt an Hunger und Krankheiten gestorben oder erfroren sein", vermutet der Archäologe.
Die Schädel mit den Schussverletzungen wurden ganz zuoberst gefunden, berichtet Sawicki. "Vielleicht hatten diese Menschen erst die Toten zusammentragen müssen und waren dann selbst erschossen worden." Aber dies sei nur eine Vermutung. Die Kleider seien vielleicht aus Angst vor einer Typhus-Epidemie verbrannt worden.
Rätsel geben nicht nur die Opfer auf. Auch über die Täter gibt es keine Gewissheit. Die These, dass es sich hier um Juden gehandelt haben könnte, die von den Nazis noch in den letzten Kriegstagen auf Todesmärsche Richtung Westen getrieben wurden, findet jedoch immer weniger Anhänger. Zwar lässt die Anlage des Grabes - nackt verscharrte Männer, Frauen und Kinder, denen selbst Goldzähne und Prothesen abgenommen wurden - auf deutsche Täter schließen. Doch die historischen Umstände und die Lage des Massengrabes zu Füßen der Kreuzritterburg, in der sich Wehrmachtsoldaten bis Anfang März 1945 verschanzten, verweisen auf die Rote Armee. Sie marschierte Anfang Januar in Marienburg ein, als die meisten der vormals 30.000 Einwohner die Stadt bereits verlassen hatten. Rund 4.000 Marienburger sollen aber in der Stadt geblieben sein.
Der Historiker Rainer Zacharias vom Heimatkreis Marienburg bezifferte bereits 1967 die Zahl der Vermissten in Marienburg auf 1.840. Eine weitaus größere Zahl - 3.800 Vermisste - nennt das deutsche Konsulat in Gdansk/Danzig, das sich auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beruft. Darunter könnten auch verschollene Soldaten sein.
Möglicherweise sind in diesem Massengrab also nicht nur Marienburger verscharrt, sondern auch deutsche Kriegflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten sowie ehemalige polnische und russische Zwangsarbeiter. Bei den 30 bis 40 Schädeln mit Schussverletzungen könnte es sich um Wehrmachtsoldaten handeln, die bis März 1945 in der Kreuzritterburg aushielten und nach der Eroberung von Rotarmisten erschossen wurden. Die fehlenden Metallteile werden allgemein als Hinweis darauf gewertet, dass das Grab später geplündert wurde. Mit Metalldetektoren sind bis heute "Schatzsucher" in Polen unterwegs.
Staatsanwalt Waldemar Zduniak, der die Ermittlungen in diesem mysteriösen Fall aufgenommen hat, geht davon aus, dass es sich bei den Toten um Deutsche handelt. "Die historischen Umstände sprechen dafür. Aber wir brauchen Beweise," sagt er. Ab Mai 1945 sammelte ein deutscher Pfarrer im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht Tote in der Stadt ein und begrub sie. Aber auch dieser Pfarrer hinterließ keinen Bericht über das jetzt entdeckte Massengrab. "Wir sind auf Zeitzeugen angewiesen und hoffen, dass sich noch jemand meldet," so Zduniak.
In gut einer Woche soll die Exhumierung abgeschlossen sein. Dann sollen die Knochen gerichtsmedizinisch untersucht werden. Wo die Toten letztendlich beigesetzt werden, ist noch nicht klar. Viele Malborker wollen den Deutschen, die trotz der Gefahr 1945 in ihrer Heimatstadt bleiben wollten, die letzte Ehre erweisen - im polnischen Malbork, dem früheren Marienburg.
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