15. Oktober 1989: Arroganz der Macht
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre rennen seit zwei Tagen überall im Land durch Großbetriebe, und in den Zeitungen ist es hinterher so beschrieben, als würden sie sich dort Absolution für ihre alten Phrasen holen. In den Zwischenüberschriften der Berichte im ND liest sich das so: „Nachdenken über das gemeinsame Haus DDR“, „Alles Geschaffene bestmöglich nutzen“, „Klassenkampf ist nicht passé“.
Es wirkt auf mich, als wollte man nach ein wenig Aufregung wieder zur Tagesordnung übergehen. Plötzlich ist auch von Rentenerhöhungen zum Dezember dieses Jahres die Rede. Einschüchtern, vertrösten, beschwichtigen und – wenn das nicht mehr hilft – kaufen. So politisch einfallslos geht's normalerweise nur im bundesdeutschen Wahlkampf zu.
Eine Auseinandersetzung mit Vertretern des „Neuen Forum“ wird dagegen wiederum strikt abgelehnt. Offenbar im Bewußtsein, im Besitz der einzig gültigen Wahrheit zu sein, wischt man die über 200.000 Unterschriften, die seit Mitte September für den ersten Aufruf des „Neuen Forum“ gesammelt worden sind, beiseite. Statt dessen wird der vor einiger Zeit gegründete „Freidenkerverband der DDR“ an die „Front der ideologischen Klassenauseinandersetzung“ geschickt. In einer Erklärung schlägt der Verein eine plumpe Volte von der Freiheit des Denkens – die er für sich in Anspruch nimmt – zur Konterrevolution, die all jenen unterstellt wird, die sich quasi unautorisiert in die gesellschaftliche Diskussion einmischen wollen.
Am Abend fahre ich zur Erlöser-Kirche nach Lichtenberg. Dort findet ein „Konzert gegen Gewalt“ bekannter Liedermacher und Schriftsteller statt. Niemand läßt einen Zweifel daran, daß mit „Gewalt“ die Gewalt des Staates gemeint ist. Wohltuend offene Worte fallen. Ein SED-Bezirksverordneter aus Prenzlauer Berg geht zum Mikrophon und sagt: „Beruhigt euch nicht. Wir haben wahrscheinlich nur diesen einen Versuch.“ Vielleicht sind Hopfen und Malz ja doch noch nicht verloren. Wolfram Kempe
Der Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen