100 Jahre African National Congress: Regieren, bis Jesus kommt
Trotz aller Begeisterung trägt das 100. Jubiläum des ANC bitter-süße Züge: Die Partei Mandelas hat die Apartheid besiegt – aber Schwierigkeiten mit der Demokratie.
JOHANNESBURG taz | In der kleinen Kirche Wesleyan in Waaihoek, Bloemfontein, werden Hymnen gesungen. Expräsident Nelson Mandelas Weggefährte, Ahmed Kathrada, blickt zurück und ehrt seine Partei, den African National Congress (ANC): "Großes ist in harten Kämpfen errungen worden", sagt er. "Das Wichtigste ist Würde. Ganz Südafrika ist frei."
Als hier 1912 die Geschichte des ANC begann, ahnte niemand, dass die Partei 100 Jahre später in dem Gotteshaus ihren Geburtstag glamourös feiern könnte. Sicherlich glaubte damals auch keiner der Geschäftsleute, Kirchenvertreter, Anwälte und Lehrer bei der Gründungsversammlung daran, wirklich die Apartheid überwinden zu können. Und einer Partei anzugehören, die jetzt unter Präsident Jacob Zuma regieren will, "bis Jesus kommt".
Die Hauptstadt der Provinz Freistaat steht ganz im Zeichen der Jahrhundertfeier. 47 Staatsgäste aus aller Welt, die einst den Widerstandskampf des ANC gegen soziale Ungleichheit und Rassismus unterstützten, gratulierten. Präsident Jacob Zuma schlachtete einen Bullen nach afrikanischer Tradition. Gesang, Tanz und Lobgesang für die Ikonen des Kampfes wie Nelson Mandela, Oliver Tambo und Walter Sisulu unterhalten mehr als 100.000 Gäste. Das ganze Jahr über soll gefeiert werden - für rund 10 Millionen Euro.
Am 8. Januar 1912 gründen schwarze Südafrikaner unter Leitung von John Dube, christlicher Priester aus einer Zulu-Königsfamilie, den South African Native National Congress, um die Widerstandsorganisationen der von ihrem Land vertriebenen Schwarzen, der entmachteten traditionellen Führer und der afrikanischen Kirchen zusammenzuführen. Die Organisation nennt sich 1923 in African National Congress (ANC) um, als afrikanisches Pendant zu Mahatma Gandhis Befreiungsbewegung Indian National Congress in Indien, der heutigen Kongresspartei.
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1943 werden erstmals Frauen als ANC-Mitglieder zugelassen. Nach Einführung der strengen Rassentrennung in Südafrika 1948 führt der ANC den Widerstand der Schwarzen gegen ihre komplette Entrechtung an. 1960, nach dem "Massaker von Sharpeville" an 69 friedlichen Demonstranten, wird der ANC verboten, seine Führer gehen entweder ins Exil oder landen im Gefängnis.
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Unter Leitung von Nelson Mandela entsteht 1961 der bewaffnete ANC-Flügel Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation). Mandela wird 1962 festgenommen und 1964 mit anderen ANC-Führern zu lebenslanger Haft verurteilt. Jahrzehntelang gilt der ANC in Südafrika und im Westen als terroristische Organisation.
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Wichtigste ANC-Führer während des Kampfes gegen die Apartheid sind Albert Luthuli (ANC-Präsident 1952-67) und Oliver Tambo (ANC-Präsident 1967-91). Im Februar 1990 wird der ANC als erster Schritt zu einer Reform der Apartheid wieder legalisiert, Mandela wird freigelassen. Bei Südafrikas ersten freien Wahlen 1994 siegt der ANC mit 63 Prozent und regiert seitdem. Mandela wird Präsident bis 1999, gefolgt von Thabo Mbeki, Kgalema Motlanthe und seit 2009 Jacob Zuma. DJ
Im Glanz der ältesten Befreiungsbewegung des Kontinents sonnt sich mancher der anwesenden ANCler. Aber die Partei hat Probleme, sich in eine Organisation umzuwandeln, die auch Kritik auf breiter Ebene begrüßt und nicht nur von Verehrungskultur und Machtdünkel lebt. Kein Zweifel, die ANC-Errungenschaften sind zu feiern. Nach dem beharrlichen Kampf der Kaderbewegung begann mit dem ersten schwarzen Präsidenten Mandela 1994 die freie Wahl. 17 Jahre später schaut der ANC auf eine demokratische Gesellschaft. Das Feindbild ist verschwunden - aber eigene Schwächen korrumpieren die Partei.
Unterschiedliche Stimmen Segen & Fluch
Während des Kampfes waren die unterschiedlichen Stimmen innerhalb des ANC ein Segen. Am Hebel der Macht scheinen sie oft ein Fluch zu sein. Die sozialen Herausforderungen in Südafrika spitzen sich nicht nur zu und explodieren in Protesten der Armen und in Ausländerhass. Die Machtelite steckt zunehmend zu viel in die eigenen Taschen. Korruptionsskandale durchziehen den ANC und legen die mangelnde Fähigkeit zur soliden Partei- und Regierungsführung offen.
Enttäuscht sind viele, Schwarze wie Weiße. Ist der Lack ab? "100 Jahre sollte die größte Feier des ANC sein, so lange zu existieren und an der Macht zu sein. Aber die Partei steckt in der Krise", sagt der Kommentator William Gumede. Es sei ein bitter-süßer Sieg - und vielleicht die Krönung der ANC-Geschichte. Von jetzt an gehe es bergab. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts könnte sich der ANC selbst zerreißen.
Die Tausenden schwarz-grün-goldenen Fahnen mit der Aufschrift "100 Jahre selbstloser Kampf" erinnern an eine andere Zeit. Längst ist die einst breite politische ANC-Debattenkultur Eigensucht und persönlicher Interessen gewichen. Charismatische Helden wie Mandela und Sisulu, die ihr Leben für die Partei und deren Ideale hergaben, gibt es nicht mehr.
Die ANC-Linke bekämpft die ANC-Rechte. Oft überwiegt der Zwist der "Afrikanisten" gegen prowestliche Liberale. Politiker streiten mehr vor Gericht als an der Basis. Die wachsende schwarze Mittelschicht verliert sich in der eigenen Welt des Luxus.
Mehrheit aus Melancholie
Bei Wahlen erhält der ANC nach wie vor eine Zweidrittelmehrheit. Aus Melancholie. Doch die ANC-Regierung beantwortet Kritik aus der Zivilgesellschaft mit Angriffen auf die Presse, die sie mit einem neuen Mediengesetz mundtot machen will.
"Das Zögern der Bewegung, das Ergebnis des Friedens ernsthaft zu studieren, hat sie weniger fähig gemacht, die potenziellen Spannungspunkte und Konflikte vorauszusehen", kritisierte ANC-Minister Pallo Jordan. "Die Fähigkeit der ANC-Führung hängt davon ab, wie die Partei die gesellschaftlichen Veränderungen adressiert, die von der eigenen Politik produziert wurden."
Den Jungen die Ideale der Vergangenheit vorzuführen, das lässt sich der ANC was kosten. Die alte Wesleyan-Kirche kaufte die Partei mit einer Million Euro öffentlicher Gelder für die Jahrhundertfeier von einem Privatmann zurück. Die dort entzündete Jahrhundertflamme reist als Symbol für den Widerstand gegen Apartheid durch das Land. Sie wird noch länger brennen.
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