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■ 10. Oktober 1989Aufatmen

Ein halbes Aufatmen geht durchs Land. An der Montagsdemonstration am Abend zuvor in Leipzig haben über hunderttausend teilgenommen – aber es war friedlich geblieben, es ist nicht geschossen worden. Am Montag morgen war zwar in der Jungen Welt ein Artikel unter der Überschrift „Denen keine Chance, Genossen!“ erschienen, und im ND hatte es geheißen: „Störung der Volksfeste verhindert“, was den schlimmsten Ahnungen Vorschub leistete. Aber offenbar hatten sich im Politbüro jene durchgesetzt, die eine chinesische Lösung“ ablehnten.

Am Vormittag fällt mir der Aufruf des Vorbereitungskreises der Mahnwache in der Gethsemane-Kirche in die Hände. Darin steht: „Wir sind betroffen über das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen gewaltlos demonstrierende Menschen. Wir haben Angst und wir sind wütend. Wir sind verbittert und mißtrauen der Staatsführung. Wir sind in Sorge, wie der sich zuspitzende gesellschaftliche Konflikt zu lösen ist. Wir sind viele – wir können nicht mehr ignoriert und übergangen werden. Das ist ein großer Erfolg.“

Abends feiert die Literaturzeitschrift Temperamente ihr zehnjähriges Bestehen mit einem Fest. Neben anderen Autoren der Zeitschrift soll auch ich an diesem Abend auf dem Fest lesen. Vor Beginn der Lesung erkläre ich der Chefredakteurin, daß ich bei dieser Situation im Lande nicht daran denke, Geschichten vorzulesen. Ich würde vielmehr die Gelegenheit nutzen, ein paar Worte zu ebendieser Situation sagen. Die Frau versucht mir das auszureden. Schließlich seien etliche Leute vom Zentralrat der FDJ und von der SED-Bezirksleitung im Publikum. Ich erzähle dennoch von Podium herunter, was ich am Sonntag erlebt habe. Ein anderer, der am Sonntag verhaftet worden war, spricht von seinen Erlebnissen in der Haftanstalt Rummelsburg. Bangemachen gilt nicht mehr. Wolfram Kempe

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