10 Jahre nach Tschernobyl: "Stabile Lage" nach der "Havarie"
■ In der DDR war Tschernobyl offiziell kein Thema: "Jeder Schuster kloppt mal daneben." Bevölkerung informierte sich über Westmedien, Anti-Atom-Bewegung "wachte auf" Von Torsten
Die Friedensfahrt, damals das größte internationale Radrennen der Amateure, startete am 6. Mai 1986 das einzige Mal in Kiew, nur gut 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt. „Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Sportfunktionäre unsere Gesundheit aufs Spiel setzen“, erklärt der Radrennfahrer Uwe Raab heute. Ziel der Propaganda war es, der Welt zu zeigen, wie harmlos und ungefährlich ein Aufenthalt in der ukrainischen Hauptstadt elf Tage nach der Reaktorkatastrophe war.
Tschernobyl und mögliche gesundheitliche Folgen für die DDR- Bevölkerung, „das war offiziell damals gar kein Thema“, erinnert sie die Lehrerin Janka Mackowski, „darüber wurde in der Schule nicht gesprochen.“
In den Hauptnachrichten, der „Aktuellen Kamera“ vom 28. April, zwei Tage nach dem Reaktorunglück, las der Sprecher eine Meldung der russischen Nachrichtenagentur Tass vor: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl habe sich eine Havarie ereignet“ – kein Wort über den Brand des Reaktors oder die entstandene radioaktive Wolke, die Richtung Westen zog. Die Zeitungen übernahmen den Wortlaut am nächsten Morgen. In den Tagen darauf wurde nur noch verlautbart, wie sich die Lage in der Ukraine „stabilisiert“.
Jedoch seien 90 Prozent aller DDR-Bürger über das Ausmaß der Katastrophe aus den Westmedien informiert gewesen, so schätzt der Ex-DDR-Bürgerrechtler Gerd Poppe. Und „dieses Gefühl der elementaren Bedrohung“ habe Tschernobyl inoffiziell „für Wochen zum Spitzenthema gemacht“, sagt Poppe.
Denn wie sollte sich die Bevölkerung verhalten? Auf der westlichen Seite wurde davor gewarnt, im Regen zu spazieren, Pilze zu sammeln, Milch zu trinken und Salat zu essen. Die Wissenschaftselite des eigenen Staates gab dagegen ununterbrochen Entwarnung. DDR-Atomexperte Georg Sitzlack versuchte mit dem Satz, „jeder Schuster kloppt sich mal auf den Daumen“ das Problem zur Lappalie zu degradieren. Und Staatschef Erich Honecker empfahl, Gemüse und Salat zu waschen. „Zu Hause waren wir sechs Kinder, und unsere Mutter hat immer den Salat gewaschen“, ließ er sich von der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter zitieren.
„Ich habe mich nach dem Unglück nicht eingeschränkt oder mit Konserven und Milchpulver eingedeckt“, sagt Janka Mackowski. Und ihre Tochter hätte auch draußen spielen dürfen. Kindergärtnerinnen, die Kindern das Spielen im Sand verboten, „lösten eine Eingabenflut aus“, berichtet Wolgang Rüddenklau von der Berliner Umweltbibliothek.
Beim Essen gab es wenig Alternativen: „Babynahrung wurde knapp“, sagt Sebastian Pflugbeil vom Neuen Forum, aber sonst waren die Geschäfte voll wie selten. „Obst und Gemüse aus Polen, das bundesdeutsche Abnehmer wegen der Strahlenbelastung boykottierten, landete in den Kaufhallen der DDR“, erzählt Vollrad Kuhn von den Bündnisgrünen. Es gab Rehrücken und Salate in westdeutscher Verpackung. Doch der Preis von 12 Mark für ein Bund Spargel schreckte viele der Käufer ab. „Der Salat, der sich nicht verkaufte, ging an die Schulspeisung“, meint Pflugbeil.
„In unserem Garten haben wir Rhabarber und Kräuter wegen möglicher Belastung nicht gegessen“, sagt Vollrad Kuhn. Andere Familien, wie die von Sigrid Schaffner, haben nicht auf selbst geerntetes Gemüse verzichtet. „Aber Pilze haben wir in dem Jahr keine gesammelt“, erinnert sich Schaffner.
Mit der Katastrophe erhielt die Umwelt- und Menschenrechtsbewegung in der damaligen DDR neuen Zulauf. Ganz normale Bürger fragten, „was können wir unseren Kindern zu essen geben“, so Pflugbeil. „Es gab viel Rumor, gemessen an der übrigen Zeit“, ergänzt Umweltbibliothekar Rüddenklau. Weil Demonstrationen nicht möglich waren, organisierten verschiedene Gruppen Unterschriftenaktionen. Die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ forderte sogar eine Volksabstimmung über die Atompolitik der DDR. „Dann sind wir aufgewacht“, schrieb Wolfgang Rüddenklau in der taz über den Beginn der Anti-Atom-Bewegung im Osten.
Schuld an der mangelnden Information waren aber nicht fehlende Meßdaten. Jeden Tag meldeten Außenstellen die neuesten Werte an das Ministerium für Strahlenschutz. Um Cottbus überschritt der Jodwert der Milch am 4. Mai „mit 50 bis 700 Prozent“ den Grenzwert. „Aber Umweltthemen unterlagen einer besonderen Geheimhaltung“, erklärt Poppe.
Dietrich Arndt, früher Leiter einer klinischen Einrichtung des Strahleninstituts, untersuchte am 2. Mai Touristen aus der Ukraine. Bei einigen seien Caesium-Werte im Kilobecquerelbereich gemessen worden, so der Arzt, der heute am Robert-Koch-Institut arbeitet. „Hätte mich ein Radsportler gefragt, ob er in Kiew starten soll, hätte ich ihm abgeraten.“
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