1. November 1989: Volksaussprache
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Als ich am Abend zufällig über den Alexanderplatz laufe, bietet sich ein gespenstisches Bild. Überall auf dem Platz, von der Weltzeituhr bis hinüber zum Hotel Stadt Berlin, stehen Gruppen von Menschen, die heftig aufeinander einreden. Als ich eine Weile zuhöre, begreife ich, daß die SED-Bezirksleitung nicht so schnell zu verschüchtern ist wie das ND.
Wenn das Volk nicht zu ihnen in die Säle kommt, haben sie sich offenbar gesagt, gehen wir zum Volk auf die Straße. In kleinen Gruppen haben sich die Genossen über den Platz verteilt und diskutieren mit Passanten. Die Mißverständnisse sind mit Händen zu greifen. Die geschulten Genossen zitieren aus dem Stegreif Parteitagsreden, die geschulten Passanten antworten aus dem Stegreif mit Luxemburg oder Marx.
In mich hineingrinsend bezweifele ich, ob die Herren aus dem Politbüro an solche Veranstaltungen gedacht haben, als sie sich für die Vorbereitung des nächsten Parteitages das Wort „Volksaussprache“ ausdachten. Die Genossen mühen sich redlich, an diesem Abend, aber sie haben keine Chance.
Am Nachmittag wird der Diskussion um Funktionärsprivilegien eine neue Umdrehung hinzugefügt. Nennstiel, Vorsitzender der IG Metall im FDGB, ist offenbar gerade dabei, sich aus unlauteren Quellen ein luxuriöses Eigenheim zu errichten. Nach Protesten von Bauarbeitern ist er heute zurückgetreten. Auf diesen Sumpf von Korruption und Privilegien angesprochen, wissen die Genossen abends auf dem Alex auch nicht weiter. Es geht doch um den Sozialismus, sagen die Genossen. Eben, antworten ihnen die Leute. Wolfram Kempe
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