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23.09.2022 , 23:30 Uhr
Ich bin gerade in Russland, hingefahren um meine Familie zu besuchen. Weil Mobilisierung schon seit Wochen absehbar (oder sehr wahrscheinlich) war, dachte ich: besser jetzt als .. wer weiss wann dann.
Seit der Bekanntmachung vor wenigen Tagen ist die Stimmung sichtlich gereizter. Es herrscht einer Art Verwirrung und Unmut.. Plötzlich trifft es fast jede Familie, persönlich und nah. Und das ist wohl genau die Schmerzgrenze, ab der viele sich zu fragen beginnen, ob es möglicherweise andere „Wahrheiten“ gibt. Schmerzhaft ist es deshalb, weil an den bequem verstaubten und festgenagelten Ansichten (die einem bis dato, zwar wackeligen, aber einen Halt gaben) ganze Weltbilder hängen! Der Boden unter den Füßen bricht zusammen: damit auch schützende und beschützte Realität. Da hängt nicht nur Bequemlichkeit dran, sondern alles.. persönliche Beziehungen, Freunde, Arbeit.. wenn nicht das gesamte Leben hier (und dessen Sinn) überhaupt. Daran zu sein, so viel und auf einmal zu verlieren, bringt viele zum Verzweifeln, es ist ein tobender (auch) innerer Kampf.
Die Meinungsdiskrepanz und innere Unruhe sucht Auswege. Die, deren Familien es trifft, werden plötzlich mündig, nicht gegenüber der Politik (politischer Einfluss ist für die meisten hier noch immer ein Mythos), sondern gegenüber ihren Nächsten: Nachbarn, Bekannten, Mitfahrenden.. Andere halten nach wie vor fest an ihrem Weltbild, setzen Patriotismus gleich mit dem Willen der Regierung, wie wechselhaft, unglaubhaft, fragwürdig, selbstzerstörerisch dieser auch sein mag. Manche sind nach wie vor taubstumm.
Verrückt ist, wie viele um mein Wohlergehen in Europa besorgt sind. Manche machen Witze darüber, dass ich den kalten Winter dort nicht überleben werde. Andere sind voller Ernst der Meinung, dass ich als Russe dort ernsthafter Gefahr ausgesetzt bin, aufgrund meiner Herkunft in ein Lager gesteckt zu werden. Manche wiederum haben ein sehr klares Bild, was vor sich geht.
Eine verdrehte Welt.
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