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Archiv-Artikel

„Sie betreten den Vergnügungssektor“

Stellt euch vor, es ist Silvester und keiner hört hin. Tatsächlich werden Lärm und Lautstärke zu einem Großteil subjektiv empfunden, der Rechtssprechung ist das schnuppe. Sounddesigner Michael Sieverts fordert daher einen differenzierten Umgang mit Knallern, Rasenmähern, Froschteichen und Parties

Der Ursprung ist furchterregend: „Lärm“ stammt wortgeschichtlich aus der französischen Kriegssprache. Und der Schlachtruf „A l`armel“, was so viel heißt wie „zu den Waffen“, klingt nicht nur im Wort nach. Auch der Streit darum, wer wo wie laut sein darf, nimmt regelmäßig (klein-)kriegerische Formen an. Während aber fünf lachende Jugendliche um zwei Uhr nachts aus Anwohnern Möchte-gern-Mörder machen, geht heute Abend mit den Kanonenschlägen alles in Ordnung. Studien bestätigen es: Nur 20 Prozent der Lärmbelästigung leiten sich aus der Lautstärke her. Der Rest verdankt sich anderen, nur zum Teil messbaren Größen. Der Bremer Sounddesigner Michael Sieverts, der von Berufs wegen genau hinhört, plädiert für einen differenzierten Umgang mit Geräuschen – andere Länder machen es übrigens vor. Sowohl Österreich als auch die Schweiz haben Lärmkataster von ihren Städten anlegen lassen, und lassen auch in der Rechtssprechung mehr als nur Dezibel als Lärmkriterium gelten. Auch für die Bundesrepublik sollte es ein solches Kataster geben. Mit Verweis auf eine bei der EU-weiten Lärmgesetzgebung sitzen die Städte – auch Bremen –das Problem zur Zeit aber aus. Und auch die EU wird wohl weniger auf Differenzierung als auf Normen drängen, die dem vielschichtigen Thema Lärm nicht gerecht werden. taz: Uns steht das hochgradig Lärm erzeugende Silvester-Ereignis ins Haus. Was sagt der Sound-Designer dazu?Michael Sievert: An diesen Raketen arbeiten ja selbst jede Menge Sound-Designer. Ein Kanonenschlag muss wie ein Kanonenschlag klingen, obwohl das weit über die Schmerzgrenze rausgehen kann. Und was normalerweise blankes Entsetzen auslösen würde, wird an Silvester geradezu als Musik empfunden. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die reine Lautstärke nichts darüber sagt, wie akzeptabel ein Geräusch ist.

Gibt‘s ein Gegenbeispiel zu Silvester?Das berühmteste Beispiel ist das mit dem Froschteich. Vom Schalldruck her ist das irrelevant, das darf keinen nerven. Aber in einer besonderen Situation, in einer bestimmten Umgebung: Dass es nämlich ruhig ist, dass es nachtschlafende Zeit ist und es drittens so heiß ist, dass man die Fenster weit aufmachen muss, dann wird das zur massiven Störung, bis hin zu physiologischen Reaktionen: Die Herzfrequenz steigt etcetera.

Sie plädieren dafür, dass auch offiziell, also in Politik und Rechtssprechung, andere Kriterien beim Thema Lärm wirksam werden?Bei uns ist es so, dass die Rechtssprechung nur den Schalldruck als Kriterium anerkennt. Und danach wird gemessen, ob es sich um Lärm handelt oder nicht, oder, im Klartext, ob du das einzuschränken hast oder ob du das machen darfst. Es gibt aber Beispiele aus Österreich, dort gehen sie sehr viel differenzierter mit dem Thema um, sicherlich nicht bis zum letzten Rest. Kriterien wie Lautheit, Schärfe, Rauhigkeit, Intensität über die Dauer schwankend – all das kann man übrigens messen – spielen eine Rolle, und von da aus kommt man zu ganz anderen Bewertungen.

Es gibt ja auch diese merkwürdige Akzeptanz von Zuggeräuschen bei den Autohassern...Genau, die können gar nicht schlafen, wenn der Vieruhrdreißiger vorbeirauscht. Die zählen womöglich die Waggons.

Sie hören von Berufs wegen genau hin, wo müsste man dringend mal einen Sound-Designer hinschicken?Zu den Benzinrasenmähern. Zu allem, was im Sommer im Garten stattfindet, einschließlich den von ihren Ehefrauen rausgeschmissenen Heimwerkern, die im Hof ihre Kreissägen ansetzen. Oder zur Deutschen Bahn. Dieses Fiepen, wenn die Türen auf und zu gehen, das ist doch Tinnitus-verdächtig. Oder ans Martinshorn: Wenn man im dichten Verkehr fährt und es heult ein Rettungswagen auf – man weiß nie aus welcher Richtung das kommt. Dazu gibt es Vorschläge, die aber nicht umgesetzt werden. Und auch in der Medizin, wo es um Alarmsignale geht. Im Intensivbereich gibt es meinetwegen zwanzig oder dreißig Apparate. Irgendwas fiept, und die überlasteten Schwestern wissen manchmal gar nicht mehr, was jetzt eigentlich ausgefallen ist. Die Geräusche müssen zuordenbar sein, und zwar kulturübergreifend.

Wie muss man sich die Arbeit am Sound vorstellen? Es gibt ja das berühmte Beispiel vom Bosch-Kühlschrank aus den 50er Jahren, der sollte klingen wie eine Auto-Tür. Wer noch kein Auto hatte, dem sollte wenigstens beim Auf- und Zuklappen des Kühlschanks so ein Luxus-Gefühl den Rücken runter kriechen.Es sollte eine kommunikative Schnittstelle zwischen Konstrukteur und Sounddesigner geben. Das heißt, der Sounddesigner stellt fest, dass das Produkt nicht gut klingt. Nehmen wir einen Staubsauger, der muss leise sein, aber nicht zu leise, sonst glaubt man nicht, dass er Kraft hat. Oder Autos: Daimler beschäftigt seit 20 Jahren Sounddesigner. Und wenn ein Zahnrädchen ein fieses Geräusch verursacht, dann muss der Konstrukteur sich was einfallen lassen.

Nochmal zurück zum subjektiven Lärmempfinden. Wenn das ein Kriterium wäre, könnten sich die Leute ja schon von einer Party belästigt fühlen, die noch gar keine objektiv lärmenden Ausmaße angenommen hat?Ich sehe da eine Chance in genau der anderen Richtung. Man muss Konfliktlösungsmodelle finden, die dem urbanen Feld angemessen sind. Es kann doch nicht irgendeine Messgröße über Spaß oder Belästigung entscheiden! Wir bräuchten – analog dem Zeitbüro – ein Lärmbüro. In Kooperation mit Forschungseinrichtungen müsste man die subjektive Lästigkeit erst mal ernst nehmen. Das heißt aber nicht, dass der empfindlichste Teilnehmer zum Maßstab wird.

Wenn man jetzt an das Bermuda-Dreieck im Viertel mit der Disco Römer, dem Heartbreak-Hotel et cetera denkt: Da ist das subjektive Lärmempfinden der Jugendlichen so ab halb Zwei gar nicht mehr vorhanden, während dasjenige der Anwohner zur gleichen Zeit in die Höhe schnellt. Was gibt es da noch zu moderieren?Wenn das Stadtplanungsamt über einen Lärmatlas verfügen würde, dann könnte man den Leuten vorher sagen: Achtung: Sie betreten den Vergnügungssektor. Das ist eine städtische Qualität, die Vor- und Nachteile hat, aber ich muss den Menschen natürlich die Möglichkleit geben, sich dazu zu verhalten. In der Stadt gibt es Verkehrslärm, und am Wochenende ist eben Fiesta. Wenn ich jetzt an die Schlachte ziehe, dann muss ich den Lärm dort genauso mitdenken wie den Fluss, die Bäume und die Sonneneinstrahlung.

INTERVIEW: ELKE HEYDUCK