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: „Abstehende Röhren“: Thomas Kapielski liest seine eigenen Texte

Von vorne bin ich Scheibe

Ja, der Kapielski! Dass der Kapielski so ein feiner Mensch ist, war auch schon in dieser Zeitung wohl begründet und des öfteren zu lesen. Fast fühlt man sich inzwischen als Verräterin an der durchaus distinktionsbewussten Sache dieses feinen Menschen, wenn man ihn allzu häufig hymnisch lobend auf den Lippen führt, dabei durchaus in einen breiten Chor einstimmend und womöglich vor Begeisterung in seinen Ton verfallend. „Weil man ja auch nicht immer alles nur Scheiße finden kann“, wie der Künstler selbst an einer Stelle sagt, sei’s drum!

Vom feinen Menschen einmal abgesehen, zeichnet sich Thomas Kapielskis Künstlervita durch strenge Verwurzelung in der Altwestberliner Boheme und die Schlitzohrigkeit des genialen Dilettanten (oder Geografen) aus, dessen einzige Spezialisierung den beständigen Hang zum Parodistischen betrifft: Seine bildenden Antikunstwerke wertete er souverän durch affirmative Titel auf, er fotografierte wie ein Lomograf noch bevor es hierzulande Lomos gab, fünfzigjährig fuhr er zum Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt, um dort von Baden-Baden zu schwärmen, und schließlich nannte er zwei seiner Prosabände „Gottesbeweise“, gleichsam vorausahnend, dass es noch mal zu einem Comeback der Theologie im Allgemeinen wie auch des Kirchentages im Besonderen kommen würde.

Überhaupt erinnert seine Prosa zunehmend an Gleichnisse und Traktate, die auf verschwenderische Weise bildungsbügerlich-sprachverspielt ausstaffiert wurden, um dann die kathartische Schönheit einer zotigen Prollpointe umso wirkungsvoller entfalten zu können. Mit anderen Worten: Kapielski ist trotz Wertkonservatismus und altmodisch gelebtem Künstlerklischee, aus dessen Trott ihn auch Phasen plötzlichen Ruhms und verhältnismäßigen Reichtums nicht zu stoßen vermögen, meistens seiner Zeit voraus.

Nachdem dieses Jahr nicht nur die aphoristisch-essayistische Tagebuch- und Anekdotenschwarte „Sozialmanierismus“ erschien, ist nun nach „Nasenflöten“ ein zweiter Kapielski im Hörformat herausgekommen, worauf der Autor nicht nur in äußerst angenehmem Tempo und sachgemäß betont liest, sondern auch mit bedächtigem Charme und hübschen Versprechern improvisiert. Trotzdem scheint es fast, als habe er seine Hörer dafür entschädigen wollen, dass er nur aus bereits gedruckten Texten liest: So besteht „Abstehende Röhren“ nicht allein aus zwei CDs, sondern auch aus einem mit Schwarz-Weiß-Fotografien illustrierten Selbstkommentar-Booklet zwecks „Mitlesung bei Anhörung“ sowie einer CD-ROM, welche mit der zweiten CD identisch sein und zusätzlich noch weiteres Medienmaterial enthalten soll, gewissermaßen den Film zur Mitlesung bei Anhörung.

Letztere hat zumindest mein Computer nicht geöffnet (der Geist ist willig, doch die Technik schwach). Aber vielleicht wären Filmaufnahmen dann ohnehin zu viel des Guten und Nahen gewesen. Nicht umsonst thematisiert „Abstehende Röhren“ wiederholt und ungewohnt selbstgeißelnd den Quadratschädel des Künstlers („Von vorne bin ich Scheibe“), so zum Beispiel in der biopolitischen Abhandlung „Lippenstülptüte“, in der divergierende Kopfformen auf unterschiedliche Babybettungsmoden zurückgeführt werden. Drei Tracks später führt Kapielski sich und Freund Frieder Butzmann auf einer sommerlichen Zugfahrt Berlin–Hamburg als „rot aufgedunsene Gesichtsschwitzer“ ein, was man sich auch ohne Bildmaterial sofort vorstellen kann.

Neben den gleichfalls anschaulichen Tiergeschichten („Schafe“, „Kamele“) ist der Reisebericht aus Finnland die kostbarste Perle dieser Kollektion. Man kennt ihn aus den „Gottesbeweisen“, aber von Kapielskis nicht allzu tiefer, die Konsonanten zärtlich verschleifender und sich bisweilen leicht überschlagender Stimme wird sie noch besser. Und auch hier schwitzt der Autor, denn die Flucht vor den Mücken führt stracks in die Sauna und zu erbarmungslosen Bieraufgüssen.

Zwölf Minuten sechsundfünfzig Sekunden dauert der abschließende Loop, in dem Thomas Kapielski feststellt, was für „ein feiner Mensch!“ der Kapielski ist – „das gibt’s überhaupt gar nicht!“. Jetzt schwitzt auch die Hörerin: schöne Unverschämtheit eigentlich. Aber so ist das ja mit guter Kunst. EVA BEHRENDT

Thomas Kapielski: „Abstehende Röhren“. 2 CDs, Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002, 95 Min., 15 €