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Archiv-Artikel

Diffuses Sinnflackern

Viel Text, viel Angst, viel Wahnsinn: Wenedikt Jerofejews Stück „Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs“ unter der Regie von Árpád Schilling an der Schaubühne

Eins, zwei, drei im Sauseschritt, die Welt geht unter und wir gehen mit. Wenn sie nun aber nicht untergeht, dann haben die Bewohner von Zimmer 6 in der psychiatrischen Klinik, die der russische Autor Wenedikt Jerofejew in seinem Stück „Walpurgisnacht“ erdacht hat, ein Problem. Dann müssen sie am nächsten Tag wieder die Stationen Verhör, Verurteilung zum Tode und Behandlung mit Elektroschock wie einen Kreuzweg passieren.

Warum sie das müssen? Nun, dafür bietet Wenedikt Jerofejew gleich mehrere Antworten an. Die anekdotische: Weil der dicke Witja alle Schachfiguren gefressen hat und so Brettspiele als Zeitvertreib ausfallen. Die analytische: Weil es in ihrem Leben vor der Festsetzung in der Klinik auch nur Verdacht, Verteidigung und Verurteilung gab. Die mystische: Weil sie, die Alkoholiker, Intellektuellen und Narren, die Rolle des Leidens und Sterbens in einem System übernehmen mussten, das Christus als ideale Besetzung dieser Rolle offiziell abgeschafft hat. Die poetische: Weil sie immer noch hoffen, im rauschhaften Spiel mit der ideologisch besetzten Sprache zu einem Prozess der Selbstreinigung der Wörter durchzudringen.

Wenedikt Jerofejew gilt in Russland als Vorläufer einer Subkultur, die das eigene Leben ebenso wie das ihrer Protagonisten aufs Spiel setzt. „Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs“ entstand 1985 in einer Zeit des Stillstands. Man erlebt eine einzige Nacht in dem Zimmer 6, in das Gurewitsch, Alkoholiker, Dichter und Alter Ego des Autors, gerade eingeliefert wurde. Die Wiederholung des Immergleichen durchbricht er mit einer Flasche eines zweifelhaften Getränks. Kurz befreit der Rausch seine Mitpatienten von ihren Ängsten und glücklich schaukeln sie an den Lampen. Dann aber stellt sich die Bewegung, in der er sie versetzt hat, als bloße Beschleunigung des Sterbens heraus.

Árpád Schilling, Regisseur aus Budapest und Gast an der Schaubühne, hat die „Walpurgisnacht“ ausgewählt, um neue Ängste zu thematisieren: „Im Stück sind diese Menschen in einer Klinik eingeschlossen“, erläutert er im Programmheft, „weil sie mit der Weltgeschichte und mit den eigenen Problemen nichts anfangen können. Oft bauen sie neue Mauern, um sich zu verteidigen gegen eine Welt, die anscheinend so glatt und natürlich funktioniert, für die vieles ganz klar ist, was hinter dem Eisernen Vorhang nicht so eindeutig vorkommt. (…) Mich hat interessiert, was die hiesigen Schauspieler in dem Stück finden. Die Angst vor dem Neuen und das Gefühl, dass das alte Wissen völlig unnötig ist, ergibt eine neue Verschlossenheit.“

Aber in der Inszenierung scheint es, als wären die rasant abgespulten Textmassen oft zu weit weg von den deutschen Schauspielern. Die alte Sowjetunion und das neue Russland bleiben vage und verschwimmen ohne Trennungsschärfe hinter den wortreichen Anspielungen. Je länger der Abend dauert, desto größer wird ihre Mühe, die Höhe des einmal eingeschlagenen Wahnsinns von Satz zu Satz zu halten. Die Dialoge der Internierten rasen durch die Weltgeschichte, umkurven Größenwahn und Diktatoren, Rassismus und Kapitalismus. Anfangs kann man dem Witz noch folgen, etwa wenn Paschka zu Tode verurteilt wird, weil er die Getränke aller Getränkestützpunkte der Sowjetunion an den CIA verkauft hat; aber dann reißt öfter der Faden. Man findet den Ort und die Zeit nicht mehr, von wo aus sie ihre Visionen spinnen. Der Grad der Abweichung lässt sich nicht mehr bestimmen. Viel Text, viel Wahnsinn: Weiter und weiter rückt man davon ab.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Weitere Vorstellungen: 22. Dezember, 8. u. 9., 12. u. 13. Januar 2003, jeweils 19.30 Uhr