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Archiv-Artikel

Zwischen Qualität und Quantität

RUSSLAND Moskaus Ankündigung, seine Atomstreitkräfte mit 40 neuen Atomraketen auszustatten, soll im Inland Stolz erzeugen – und im Westen Angst

Im Vergleich zum Vorjahr wächst der Militärhaushalt Russlands 2015 um 25 Prozent

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Die Ankündigung saß: Noch dieses Jahr werde Russland seine Atomstreitkräfte mit 40 neuen Interkontinentalraketen ausstatten, so Präsident Wladimir Putin auf der Eröffnung einer Waffenmesse vergangene Woche im Moskauer Umland. Die Marschflugkörper sollen jedes Abfangsystem überlisten können.

Zu Hause freute sich die Öffentlichkeit über Finesse und List der heimischen Militärindustrie. Im Westen sahen viele schon einen neuen Rüstungswettlauf heraufziehen. So hatte es der russische Oberbefehlshaber auch geplant: Stolz verbreiten im Innern, Furcht nach außen.

Der Kremlchef hätte indes auch erzählen können, dass die Raketen Teil eines seit mehreren Jahren laufenden Modernisierungsprogramms sind, bei dem im Schnitt 40 Exemplare pro Jahr erneuert werden. Das ist kein Geheimnis, sondern dem „Bulletin der Atomwissenschaftler“ zu entnehmen. Doch Moskau zählt unterdessen auf den politischen Flurschaden, die solche Ankündigungen im Westen hinterlassen.

Noch im Dezember hatte der Kremlchef bei der Eröffnung des Nationalen Verteidigungs- und Managementzentrums in Moskau von 50 Raketen gesprochen, die 2015 angeschafft werden sollten. Auf derselben Veranstaltung nannten Präsident, Verteidigungsminister und dessen Stellvertreter zudem sehr unterschiedliche Zahlen des 2014 erneuerten Bestands. Sie variierten zwischen 20, 16 und 5.

Diese Abweichungen schienen niemanden zu stören. Offensichtlich hat die „hybride Kriegführung“ auch im Innern des Verteidigungsministeriums dazu geführt, dass Fakten mittlerweile zu Nebensachen wurden.

Die nuklearen Streitkräfte stellen das Rückgrat der russischen Verteidigung dar. 2000 verabschiedete Moskau eine neue Militärdoktrin, die den Einsatz von Nuklearwaffen vorsieht, sollten die eigenen konventionellen Kräfte einem Gegner nicht gewachsen sein.

War die Nato während des Kalten Krieges dem östlichen Verteidigungsbündnis des Warschauer Paktes konventionell unterlegen, so hat sich dieses Verhältnis nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umgekehrt. Auch in der Hightech-Kriegsführung hinken Russlands Streitkräfte den Möglichkeiten der US-Armee deutlich hinterher. Die Doktrin hat somit ihre Berechtigung – nur deutet sich seit den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine ein Wandel ihrer Auslegung an.

Kremlchef Putin scheint diese nicht mehr nur defensiv zu verstehen. Als Moskau im letzten Jahr die Krim „heimholte“, sei Russland bereit gewesen, auch Nukleartruppen in Alarmbereitschaft zu versetzen, sagte der Kremlchef in einer TV-Dokumentation. Ein Drittel des Verteidigungshaushaltes ist dem Nuklearbereich vorbehalten.

Russlands Streitkräfte haben seit dem Georgienkrieg 2008 einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen. Parallel dazu wurde auch ein Erneuerungsprogramm aufgelegt, das vorsieht, bis 2020 70 Prozent des militärischen Geräts, das meist noch aus Beständen der UdSSR stammt, durch neues Militärmaterial zu ersetzen. 2011 waren dafür 370 Milliarden Dollar vorgesehen. Mit der Wirtschaftskrise wurden jedoch 2015 auch am Verteidigungsbudget fünf Prozent Einsparungen vorgenommen – obwohl die Landesverteidigung davon ausgenommen sein sollte.

Nun wächst der Militärhaushalt 2015 im Vergleich zum Vorjahr dennoch um 25 Prozent. Selbst wenn es Moskau gelingen sollte, ihn um jährlich 10 Prozent zu erhöhen, fürchtet das Verteidigungsministerium inzwischen, die anvisierte Runderneuerung nicht einlösen zu können.

Der russische Militärexperte Alexander Golts hält das ambitionierte Rüstungsprogramm für gerechtfertigt. Seit mehr als 20 Jahren sei nicht mehr in die Streitkräfte investiert worden. Und das Ergebnis könne sich sehen lassen: Moskaus Armee hätte nun wieder die absolute Vormachtstellung im postsowjetischen Raum inne. Auch der Umbau der Landstreitkräfte war mit der Einrichtung schneller Eingreiftruppen von 3.000 bis 5.000 Mann erfolgreich. Das Husarenstück der Krimbesetzung hatten russische Spezialeinheiten wie die Luftlandetruppen und die militärische Aufklärung umgesetzt.

Mit dem Rest der Armee sind diese nicht zu vergleichen. Grundsätzlich leidet diese aufgrund der demografischen Entwicklung unter Personalmangel. Rund 845.000 Mann stehen unter Waffen. Der typische Soldat ist wenig gebildet und leidet nicht selten an Drogenproblemen. Für die Bedienung hochkomplexer Waffensysteme eignet er sich weniger.

Beobachter vermuten, dass sich das Verteidigungsministerium bald entscheiden muss: will es am Ziel einer besseren Ausbildung der Militärs festhalten – oder die massiv gewachsene Präsenz auf den Meeren und in der Luft aufrechthalten?

Mit der Besetzung der Ukraine wäre Russlands Armee überfordert, meinen Experten. Große Probleme bereitet zudem das Ende der militärisch-industriellen Kooperation mit dem Nachbarland. Daneben fordern westliche Sanktionen durch das Exportverbot von „dual use“ Gütern Tribut.

Trotz der kurzfristig erfolgreichen Reformen sieht es so aus, als würde Putins Russland noch einmal in die gleiche Falle tappen wie die Sowjetunion. Einschließlich der „geschlossenen“, geheimen Posten im Staatshaushalt liegt der Gesamtanteil der Ausgaben für den Sicherheitsbereich bei mehr als 10 Prozent. Dass dies die UdSSR in den Ruin trieb, hält Präsident Putin allerdings nicht nur für falsch – sondern für eine „eine zutiefst wahnhafte Vorstellung“.