: Ein Volk hält den Atem an
ERWARTUNGEN Die griechische Öffentlichkeit ist sich uneins, wie die Verhandlungen in Brüssel zu bewerten sind. Die Vorschläge von Premierminister Tsipras könnten auch am linken Rand seiner Regierungspartei scheitern
DANAI MAKRI, ATHENERIN
AUS ATHEN THEODORA MAVROPOULOS
„Der Pass zur Übereinstimmung“ schrieb die konservative Zeitung To Ethnos am Dienstagmorgen über ihren Bericht über die neuen Vorschlägen, die Ministerpräsidenten Alexis Tsipras am Montag in Brüssel vorgelegt hatte. Die kommunistische Rezospastiki dagegen ließ ihrem Unmut freien Lauf: „Alle auf die Straßen – jetzt setzten wir unsere eigenen Grenzen.“ Und Blätter wie H Efimerida ton Syndakton, die dem regierenden Linksbündnis Syriza nahe stehen, titeln diplomatisch mit „Schmerzhafte Kompromisse“.
Danai Makri steht an einem Kiosk im Zentrum Athens und zeigt auf die Zeitungen. „Mir graut es mittlerweile jeden Morgen vor den Schlagzeilen“, so die knapp 50-Jährige. Wie immer kauft sie sich auf dem Weg ins Büro eine Tageszeitung, heute wählt sie To Ethnos. Sie zahlt, steckt ihr Portemonnaie tief in ihre Handtasche zurück, wirft einen Blick auf die erste Seite. „Tja, jetzt soll wohl doch bei den Renten gekürzt und die Steuern erhöht werden“, seufzt sie. Sie habe nichts anderes erwartet: „Tsipras Wahlversprechen, die waren ja auch unrealistisch.“
Dennoch hat Danai Makri bei den Parlamentswahlen im Januar für den Premier und seine Syriza gestimmt. Sie lacht. „Hier in Griechenland läuft das mittlerweile alles sehr verquer: Für eine linke Partei stimmen nicht nur Linke, sondern Verzweifelte.“ Auch ihr Gehalt sei gekürzt worden. Ihr Mann habe seinen Job verloren, weil die Firma pleite ging. „Mit der Syriza hoffte ich auf eine Änderung.“ Sie habe große Sorge, dass die Regierungspartei dem Druck der Gläubiger nun nicht standhalten kann – „aber sicher ist bisher noch nichts“, schließlich liefen die Verhandlungen mit Griechenlands Gläubigern ja noch.
Doch die Zeit drängt. Ende des Monats läuft das aktuelle Hilfsprogramm für Griechenland aus. Zusätzlich muss eine Zahlung in Höhe von 1,6 Milliarden Euro an den internationalen Währungsfond (IWF) getätigt werden. Sollte es nicht bald zu einer Übereinstimmung für ein neues Sparprogramm kommen, um die dringend benötigte Auszahlung in Höhe von 7,2 Milliarden Euro zu erhalten, droht dem Land die Staatspleite.
Nicht nur die Gläubiger könnten verhindern, dass die neuen Vorschläge der Regierung Tsipras durchkommen. Auch in der Partei des Premierministers selbst macht sich Unmut darüber breit, dass die Versprechen aus dem Wahlprogramm nun doch nicht eingehalten werden: So soll die Mehrwertsteuer doch auf 23 Prozent erhöht werden – auch für Grundnahrungsmittel und den Gastronomie- und Hotelbereich, wo die „rote Linie“ der Syriza bei höchstens 13 Prozent gelegen hatte. Ebenfalls im Gegensatz zu den Wahlkampfversprechen sollen weitere Renten gekürzt – und die Beiträge zu den Pensionskassen erhöht werden. Das wird zumindest gemunkelt, sicher ist nichts. Die Verhandlungen laufen schließlich noch.
„Ich will auf jeden Fall, dass wir im Euro bleiben“, sagt Danai Makri und spricht aktuellen Umfragen zufolge damit für knapp 70 Prozent der GriechInnen – „aber unter menschlichen Umständen“. Ja auch sie sei vorgestern auf der Pro-EU-Demonstration vor dem Parlamentsgebäude gewesen, wo sich am Montagabend Tausende griechische Bürger versammelt hatten, um ihr „Ja“ zu Europa und Euro deutlich zu machen.
Auch Eva Tsimikali und ihr Mann waren da. Nun läuft das Ende-50-jährige Paar Arm in Arm die große Hauptstraße neben dem Parlamentsgebäude hinauf. Eva Tsimikali war früher Mitglied der Synaspismos, einer der größten Partei, die im Syriza-Bündnis aufgegangen sind, erzählt sie. „Als sich die Syriza bildete, bin ich allerdings ausgetreten.“ Sie habe damals schon das Durcheinander kommen sehen, das ein so großes Bündnis aus über 10 unterschiedlichen linken Parteien und Strömungen hervorrufen wird.
„Die Syriza sind für mich keine Linken. Sie werden genau das gleich machen, wie andere Regierungen vorher – und zwar ihre eigenen Leute in gute Positionen bringen“, prognostiziert Tsimikali. Sie und ihr Mann bezeichnen sich selbst als Sozialisten und hoffen weiter auf einen demokratischen und funktionierenden Sozialstaat.
Etwas abseits der Hauptstraße sitzt Student Giorgios auf den Stufen vor dem Parlamentsgebäude und nippt an seinen Milchkaffee im Pappbecher. Er habe das Geschehen vorgestern nur aus der Ferne beobachtet – denn er wisse nicht mehr ob er Pro-Euro oder doch eher Pro-Drachme sein soll. Hier herrsche ein heilloses Durcheinander. Gegen Ende der Demonstration seien Linksautonome aufgetaucht und hätten die Menschen für ein paar Minuten aufgemischt, berichtet er. Sogar die Polizei sei kurz dazwischen gegangen.
Dann der Clou, er lacht: „Die Linksautonomen wurden von Syriza-Anhängern als Faschisten beschimpft!“ Die Auseinandersetzungen endeten glimpflich. Der junge Mann wirkt nachdenklich. Dann sagt er leise: „Egal, was Tsipras auch versprochen hat und egal, was er davon vielleicht nicht einhalten kann – ich bin froh, dass er das griechische Volk dazu gebracht hat, die Syriza zu wählen.“ In einer solch unruhigen Zeit wären sonst mit größter Wahrscheinlichkeit die wirklichen Faschisten gewählt worden – die Partei Goldene Morgenröte.