: „Wir antworten nicht mit Gewalt“
„Es tut sehr weh“, sagt Cheryl Lawrence. Sie war mit einem der Opfer befreundet. „Aber wir sind stark: körperlich und moralisch.“ Die Tausende, die seit der Gewalttat vor und in der Kirche beten, suchen vor allem Trost und Frieden. Sie sind traurig. Wut auf den Täter zu haben weisen die meisten weit von sich
AUS CHARLESTON DOROTHEA HAHN
Dieselben spitzen Kirchtürme, die über den niedrigen Häusern an jeder dritten Ecke in den Himmel stechen. Dieselbe schwüle Hitze, die den Körper einhüllt. Dieselben Touristenströme, die sich durch die historische Altstadt und den überdachten Markt wälzen. Dieselben Straßennamen und Denkmäler, zu Ehren der Sklavenhalter und Rassentrenner der Stadt.
Und dennoch ist Charleston anders. Fremde Menschen liegen sich in den Armen. Drücken sich lang und fest. Sagen einander: „I love you“, sprechen von „Einheit“ und „Zusammensein“ und von „Vergeben“. Niemand hat sie um diesen Überfluss an Liebe gebeten. Am wenigsten der junge weiße Mann, der am Mittwochabend mit dem Ziel in ihre Kirche gekommen ist, Terror zu stiften. Er hat sechs schwarze Frauen und drei schwarze Männer erschossen. Hat sie in ihren letzten Momenten mit den hässlichsten rassistischen Schimpfworten bedacht und hat eine Frau überleben lassen, „damit sie alles erzählen kann“.
Manifest voller Hass
In den Monaten vor seiner Tat hat der 21-jährige Dylann Roof Freunden, die nicht glaubten, dass er es ernst meint, erzählt, er wolle die „weiße Rasse rächen“. Als man ihn fasste, wurde eine mit „The Last Rhodesian“ gezeichnete Seite im Internet bekannt, die er gemacht haben soll. Sie enthält ein Manifest, das von langer Vorbereitung zeugt. Roof hat demnach seit 2012, als der gewaltsame Tod des Afroamerikaners Trayvon Martin in Florida landesweite Proteste auslöste, über seine Tat nachgedacht.
Er wählte das eineinhalb Autostunden von seinem Wohnort entfernte Charleston, weil es einst die größte schwarze Bevölkerung der USA hatte. Für die „Emanuel African Methodist Episcopal (AME)“-Kirche entschied er sich, weil sie die älteste schwarze Gemeinde der Südstaaten ist. Das Manifest ist garniert mit Fotos, auf denen Roof posiert – mit einer Schusswaffe, beim Verbrennen einer US-Fahne und beim Schwenken einer kleinen Confederate-Fahne. Unter dieser Fahne verteidigten die Südstaaten im Bürgerkrieg die Sklaverei. 152 Jahre nach ihrer Niederlage benutzen weiße Rassisten diese Fahne als Symbol.
Jeder in Charleston kennt jemanden, der Angehörige der Opfer kennt. Die neun waren das Herz ihrer Gemeinde. Sie waren bibelfest – und zugleich in der Welt engagiert. Ihr Pastor, der 41-jährige Clementa Pickney, war in vielen sozialen Bewegungen aktiv. Als demokratischer Abgeordneter im zwei Autostunden entfernten Columbia, der Hauptstadt von South Carolina, galt er außerdem als das Gewissen des Senats. Bei seiner letzten parlamentarischen Arbeit ging es um eine stärkere Kontrolle der Polizisten. Nachdem im April ein weißer Polizist in North Charleston einen Afroamerikaner mit Schüssen in den Rücken getötet hatte und ein Video der Szene um die Welt ging, erreichte Pickney im Senat, dass Polizisten in South Carolina künftig Kameras am Körper tragen müssen.
„Er hatte das Zeug, eines Tages Gouverneur von South Carolina zu werden“, sagt Nelson B. Rivers. Wie der Ermordete hat auch der 65-Jährige die Doppelfunktion als Geistlicher, in seinem Fall in einer Baptistengemeinde, und als Bürgerrechtler. Kurz vor Pickneys Tod witzelten die beiden Männer darüber, wie einfach es war, das Gesetz über die Körperkameras durchzusetzen. Als am Mittwochabend die ersten Nachrichten über den Terror in der Kirche kamen, hoffte Rivers, dass sein Freund nach der Sitzung des Senats in Columbia geblieben wäre. Bei den Gedenkveranstaltungen und Mahnwachen für ihn sagt Rivers über die afroamerikanische Community: „Wir antworten nicht mit Gewalt. Nur jemand, der uns nicht kennt, kann etwas anderes erwarten“. Er ist überzeugt, dass die Reaktion entgegengesetzt wäre, wenn ein schwarzer Mann in eine weiße Kirche gegangen wäre, um dort zu morden. Rivers sagt: „Dann könnte sich jetzt keine schwarze Person in Charleston mehr auf die Straße trauen“.
Zwei Grundübel
Die Morde in der Kirche haben Charleston mit zwei Grundübeln konfrontiert: Rassismus und Waffenfanatismus. Doch die Aufwiegelung von schwarzen Charlestonians, die der 21-Jährige Täter nach eigenem Bekunden beabsichtigt hat, ist misslungen. Die Tausende, die seit der Gewalttat zu der AME-Kirche pilgern, suchen vor allem Trost und Frieden. Sie sind traurig. Aber Wut auf den Täter zu haben weisen die meisten weit von sich. Selbst über dessen Bestrafung machen sie sich keine Gedanken. Während die radikal rechte Gouverneurin des Bundesstaates, Nikki Haleym wünscht, dass er zum Tode verurteilt wird, sagen die Menschen vor der Kirche: „Über seine Strafe muss Gott entscheiden“. Die meisten von ihnen sind keine Befürworter der Todesstrafe.
Cheryl Lawrence war mit dem Geistlichen Daniel Simmons befreundet, der ebenfalls ermordet wurde. „Es tut sehr weh“, sagt sie. „Aber wir sind stark: körperlich und moralisch. Wir mögen nicht viel Geld haben, aber wir haben ein Ziel im Leben. Und den Geist des Herrn mit uns.“ Rajeeyah Mujahid, die in ihrer Jugend vom Christentum baptistischer Prägung zum Islam übergetreten ist, reagiert ähnlich: „Wir müssen uns lieben und respektieren.“ Sie dachte sofort, dass der Mörder „die Rassen spalten und gegeneinander aufhetzen wollte“. Beide Frauen haben Rassismus erfahren: dass sie Jobs nicht bekamen, Getuschel. Und die Mahnungen ihrer Mütter: „Guck einem Weißen nie in die Augen!“
„Holy City“ ist der Spitzname von Charleston – heilige Stadt. Gewöhnlich beten die Menschen nach Hautfarbe, sozialer Zugehörigkeit und Konfession getrennt. Doch seit Mittwoch sind die Gläubigen aus ihren Bethäusern heraus und beten in Parks, auf Straßen und vor allem vor der AME-Kirche. Bis Samstag haben die Ermittler im Inneren der Kirche nach Spuren gesucht. Unterdessen ist das Trottoir davor zu einem Pilgerort geworden. Täglich türmen sich Tausende von Rosen. Tag und Nacht kommen Menschen, sie singen Gospels, fassen mit verschränkten Armen die Hände ihrer Nachbarn. Schwingen sich sanft hin und her oder verharren in langen Umarmungen. Die Mehrheit sind Afroamerikaner. Aber die meisten sichtbaren Tränen laufen über die weißen Gesichter. Die Straße, an der die Kirche liegt, ist nach einem der „Gründerväter“ aus South Carolina benannt: Calhoun, einem Sklavenhalter und Verteidiger der Sklaverei.
Charleston, mit rund 120.000 Einwohnern am Atlantik gelegen, ist eine reiche Stadt. Das Geld hat sie ihrem Seehafen zu verdanken, durch den mehr als 260.000 verschleppte Afrikaner in das Land kamen. Zwischen 40 und 60 Prozent aller Sklaven kamen über Charleston. Ihre erste Station war die Quarantäne auf der Sullivan-Insel vor der Stadt. Dort erinnert bis heute nur eine von der Schriftstellerin Toni Morrison gestiftete Bank an das Verbrechen. In der Stadt, in der an zahlreichen Kreuzungen Menschen auf Blocks gestellt und versteigert wurden, heißen die Straßen nach Königen und Königinnen der alten Kolonialmacht oder nach Plantagenbesitzern und Politikern, die die Sklaverei verteidigten. Die Geschichte der schwarzen Charlestonians, die im 19. Jahrhundert mehr als 50 Prozent der Stadtbevölkerung stellten, ist bis heute kaum geschrieben.
Unbekannte Geschichte
Eine dieser Geschichten handelt von Denmark Vesey, einem Mitgründer der AME-Gemeinde im Untergrund. 1822 wurde er hingerichtet, weil er eine Sklavenrevolte organisieren wollte. Bis heute ist er nirgends im Stadtbild präsent. Nach Vesey wurde keine Straße benannt, und er kommt im Unterricht genauso selten vor wie der Sklave Robert Smalls, der im Bürgerkrieg ein Schiff der Konföderierten von Charleston zu den Truppen der Nordstaaten navigierte.
Für die Touristen, die zu Lande oder auf Kreuzfahrtschiffen kommen, schrumpft die afroamerikanische Geschichte auf geflochtene Körbe, auf Musik und Tänze und auf einen Dialekt zusammen, der letzte westafrikanische Elemente enthält. Einzige Ausnahme ist ein winziges Museum unter den Palmen in der Chalmers Street. „Ryans’ Mart“ war von 1856 bis zu Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 der letzte Verkaufsplatz für Menschen in Charleston. Weil sich Bürger über die Belästigung durch den öffentlich Verkauf beklagt hatten, verlegte Ratsherr Ryan das Geschäft hinter verschlossene Türen. An manchen Tagen versteigerte er an die Hundert Menschen.
Zwei Tage nach den Morden in der Kirche verspricht der weiße Bürgermeister Joseph Riley, der Charleston seit 1975 leitet, dass er die Arbeit an dem lang geplanten Internationalen Afroamerikanischen Museum nun beschleunigen will. Es soll an dem Kai entstehen, über den Tausende Menschen in Ketten kamen. Einen Raum darin will der 72 Jahre alte Riley nun dem ermordeten Pastor widmen. Viele in Charleston hoffen, dass dies nicht die einzige Reaktion bleibt. Für jene, die nicht nur beten, sondern die mit politischen Zielen auf die Straße gehen, stehen zwei Forderungen im Vordergrund: Die Fahne der Konföderierten, die immer noch am State House in Columbia weht, soll im Museum verschwinden. Schusswaffen sollen stärker kontrolliert werden.
Am Samstagabend ziehen mehrere Hundert junge Leute durch die Market Street zu einem protzigen Gebäude in der Innenstadt von Charlston. Es ist der Sitz der „Töchter der Konföderierten“ – die ebenfalls trotz der Niederlage ihres Lagers im Bürgerkrieg ihre Position in der lokalen Gesellschaft bis heute verteidigt haben. „Gegen den weißen Terrorismus“ steht auf Transparenten. Und: „Es ist unsere Pflicht, uns gegenseitig zu lieben und zu verteidigen.“
Die 75-jährige Louise, die schon 1969 bei einem legendären Streik von 12 schwarzen Krankenschwestern gegen ungleiche Löhne mitgemacht hat, geht in vorderster Reihe. Auf ihrem Schild steht: „Schwarze Leben zählen“.