: Das Märchen vom saisonalen Ereignis
INSZENIERUNG Die Eröffnung der Matjessaison vermittelt ein falsches Bild. Aber es gibt gute Rezepte dafür – und gute Bezugsquellen
■ * 1969, lebt in Hamburg. Der gelernte Koch schreibt für Zeitschriften und Magazine, darunter Effilee, arbeitet als Foodstylist, ist kulinarischer Berater für Agenturen und Verlage. Er bloggt auf nutriculinary.com. FOTO: STEFAN MALZKORN
VON STEVAN PAUL
Da ist er wieder, der „neue Matjes“! Je nach Wetterlage feiern Fischgeschäfte nördlich des Mains schon im Mai die Ankunft der jungfräulichen Heringe, als wäre ihnen die heilige Jungfrau selbst erschienen. Spätestens Mitte Juni steht der Fisch auf den Speisekarten in Hamburg und Schleswig-Holstein, mit Kartoffeln, grünen Bohnen und ausgelassenem Speck (Speckstippe) serviert oder als Kutterbrot auf gebuttertem Schwarzbrot mit Krabben gereicht.
Im Rheinland begleiten ihn Reibekuchen, er kommt dort aber auch gern mit Salzgurken zu Bratkartoffeln auf den Tisch. Über Landesgrenzen hinweg berühmt ist Matjes nach Hausfrauenart: Sahnige Joghurttunke mit Zwiebeln, Würzgürkchen und Apfelstücken umschmeichelt dabei den jungen Milden.
Der „Nieuwe Haring“ wird von Kennern beherzt an der Schwanzflosse gepackt, in die Luft gehoben und nachdem der Genießer den Kopf in den Nacken legt, wird der erste Matjes des Jahres seiner Bestimmung zugeführt. Besonders Politiker lassen sich zum Saisonstart gerne in dieser Pos(s)e ablichten, die praktischerweise Volksnähe und Bescheidenheit gleichermaßen suggeriert.
So entsteht meist der Eindruck, es handele sich beim Matjes um eine streng saisonale Frühsommer-Spezialität, bei der die Frische oberstes Gebot sei. Tatsächlich hat der eingesalzene, fermentierte Fisch rund ums Jahr Saison und wird mittlerweile bereits auf hoher See einmal eingefroren, um vor der Weiterverarbeitung eventuellen Fischparasiten den Garaus zu machen.
Eigentlich wird im Frühsommer schlicht ein neuer Jahrgang angelandet, es ist Jagdsaison für die Fischer auf der Nord- und Ostsee. Die Jungheringe sind zwischen drei und fünf Jahre alt, haben sich den Winter über im Nordatlantik mit eiweißreichem Plankton fett gefressen und schwärmen nun zum Laichen in südlichere Gewässer. Heute fangen allein die Niederländer, Dänen und Norweger den Hering, doch das war nicht immer so: 13 deutsche Städte, darunter Emden, Cuxhaven und Glücksstadt an der Elbe besaßen einst große Heringsflotten, fuhren auf Segelschiffen, den Heringsloggern, zu den Fischgründen in Nord- und Ostsee.
In den Sechzigerjahren kam es zum Zusammenbruch der Heringsbestände, in dessen Folge gedrosselte Fangquoten und eine staatlich organisierte Abwrackprämie für Heringslogger zur raschen Auflösung der Deutschen Heringsliga führten. Das mühsame und immer weniger ertragreiche Geschäft schlummerte Ende der Siebzigerjahre endgültig ein. Der letzte Logger lief 1975 in den Hafen von Glückstadt ein.
■ Für 4 Personen je 4 Matjesfilets auf einer Platte anrichten, die Filets sollten Zimmertemperatur haben.
■ Aus je 2 EL Mayonnaise, Schmand und Joghurt und 1 TL scharfem Dijon-Senf eine Sauce anrühren. Mit Salz und einem Spritzer Weißweinessig würzen.
■ 6 Radieschen und Cornichons in feine Scheiben schneiden. Je 1 kleine rote und weiße Zwiebel pellen und in Ringe schneiden. 1/2 Apfel (zum Beispiel Elstar) fein würfeln.
■ Sauce über den Fisch verteilen, mit Zutaten bestreuen. 3 Zweige Pimpinelle fein zupfen und mit der abgeschnittenen Kresse von 1 Beet verteilen.
■ Mit Salzkartoffeln, Bratkartoffeln oder zu Vollkornbrot servieren. STEVAN PAUL
Die Niederländer blieben im Heringsgeschäft, das jetzt überwiegend maschinell abgewickelt wird. Bis heute aber wird importierter Hering aus den Niederlanden und Norwegen auch in Deutschland zu Edel-Matjes verarbeitet und zwar wie früher: in Handarbeit. In Glückstadt, der deutschen Heringshauptstadt, finden sich noch zwei Matjesmanufakturen, die in großem Stil jungen Hering zu Matjes veredeln.
Bei Henning Plotz beispielsweise legt man größten Wert auf Qualität, das beginnt schon bei der Auswahl der Rohware. Bis zu 18 Prozent Fettanteil hat sein Glückstädter Matjes, andernorts begnügt man sich auch schon mal mit 12 Prozent. Nur jungfräuliche Heringe aus der tiefen, salzreichen Nordsee werden verarbeitet, sie sind festfleischiger als die Heringe aus der wärmeren Ostsee. Auch in der Manufaktur von Heiko Raumann ist man dem guten Geschmack verpflichtet: Tabu ist der Zusatz von naturidentischen Enzymen, zur schnelleren Reifung der Fische.
Den Unterschied kann man sehen und schmecken: Schon das Fleisch vom Glückstädter Matjes ist hell und appetitlich elfenbeinfarben, Hering aus industrieller „Veredelung“ dagegen grau und stumpf. Den handwerklich hergestellten „Original Glückstädter Matjes“ ziert seit Neuestem das EU-Siegel „geschützte geografische Angabe“. Der Fisch aus Glückstadt ist damit berechtigterweise in den Stand einer unverwechselbare Spezialität erhoben: zart im Biss, aromatisch und wesentlich milder gesalzen als die Supermarktware „Matjes nordische Art“. Das macht den Unterschied. Und zwar rund ums Jahr.