„Bisweilen etwas entartet“

JUGENDSCHUTZ Auch das letzte Heim des umstrittenen Friesenhofes ist geschlossen und nun beginnt in Hamburg und Kiel die Aufarbeitung

■ Heime sind Teil der stationären Jugendhilfe und werden von frei-gemeinnützigen, kirchlichen oder privat-kommerziellen Trägern betrieben.

■ Die Aufsicht führen die Jugendämter auf Bezirks-, Kreis-, Stadt- oder Landesebene.

■ In Schleswig-Holstein herrscht ein Überangebot an Heimen, die nur durch Kinder aus anderen Ländern belegt werden können. Das Land kann überzählige Einrichtungen erst schließen, wenn es Verstöße dort gegeben hat.

AUS KIEL UND HAMBURG ESTHER GEISSLINGER
UND KAIJA KUTTER

Unmenschlich sei der Umgang mit Mädchen in den Heimen des Friesenhofes gewesen und das Kieler Sozialministerium habe mittelbar an der Lage mitgewirkt: Die Opposition warf dem Landesjugendamt und Ministerin Kristin Alheit (SPD) in der gestrigen Landtagsdebatte mangelnde Kontrolle, gar die Duldung von Grundrechtsverstößen vor. Die gestand in den Mädchenheimen im Kreis Dithmarschen Fehler ein, wies aber die übrigen Vorwürfe zurück. Während der Debatte teilte Christian Heim, der Insolvenzverwalter des privat-kommerziellen Friesenhofs, die Schließung der letzten Wohngruppen mit – aus wirtschaftlichen Gründen.

Bereits am Dienstag hatte sich in Hamburg, woher die Mehrzahl der Jugendlichen in den Friesenhof-Heimen stammte, der Familienausschuss mit dem Thema beschäftigt. Der Fall war im Mai von der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft publik gemacht worden. Da sei das Jugendamt in Schleswig-Holstein „längst an dem Fall drangewesen“, sagte Wolfgang Baasch (SPD) gestern im Kieler Landtag – von einem Versäumnis also keine Rede. Lars Harms (SSW) warf der Opposition vor, die Frage, wer wann etwas gewusst habe, sei „reine Show, das hilft den Jugendlichen gar nicht“. FDP-Spitzenmann Wolfgang Kubicki hatte zuvor Alheits Rede als erbärmlich bezeichnet. Das Argument der Ministerin, das Jugendamt habe das Heim erst nach längerem Verfahren schließen können, stimme schlicht nicht. „Wenn das Kindeswohl in Gefahr ist, müssen Sie unmittelbar handeln“, sagte Kubicki.

Wolfgang Dudda von den Piraten kritisierte, dass die Vereinbarung, die im Frühjahr zwischen Jugendamt und Friesenhof geschlossen wurde, „die Legalisierung von Willkür“ gewesen sei. So steht in dem Vertrag, der der taz vorliegt, dass Jugendlichen persönliche Gegenstände weggenommen werden können. Die Kontaktverbote in den Bootcamp-artigen Heimen verglich Dudda mit der Einzelhaft von RAF-Mitgliedern im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Ihm sei unbegreiflich, wie Jugendamtsmitarbeiter das unterschreiben und eine Ministerin darüber nicht informiert sein könne.

Die Opposition hat Akteneinsicht beantragt, um die Rolle der Aufsichtsbehörden zu klären. Die regierenden SPD, Grüne und SSW wollen nun Maßnahmen für die Zukunft entwerfen und Gesetzesänderungen auf Bundesebene anschieben. Dazu zählt, Heime unangekündigt prüfen zu dürfen. Auch eine Ombudsstelle ist im Gespräch.

Im Hamburger Familienausschuss wies Alheits Amtskollege Detlef Scheele (SPD) am Dienstag jede Verantwortung von sich. Es sei Sache der Bezirks-Jugendämter zu entscheiden, ob der Friesenhof belegt werde. Seit 2008 hat Hamburg 88 Mädchen dort untergebracht, 46 aus Wandsbek. Dessen Jugendamtschef Christoph Exner lobte das Konzept als für die Zielgruppe gar nicht so schlecht, nur in der Umsetzung „bisweilen etwas entartet“. Es habe Mitarbeiter gegeben, die „den Mädchen machtmissbräuchlich gegenübertreten“. Exner schien nach der Vereinbarung im April alles in Ordnung zu sein.

Die zahlreichen Beschwerden von Mädchen oder ihren Vormündern bei Hamburger Jugendämtern über die Zustände im Friesenhof zogen einige Jugendamtsleitungen während der Sitzung ins Lächerliche: „Es kam keine Cola auf dem Tisch“, sagte etwa Matthias Musall aus dem Bezirk Mitte. Auch dass Mädchen die Handys abgenommen oder ihnen andere Bewohnerinnen als sogenannte Patinnen zur Seite gestellt worden sei, hielt Mussal für vertretbar.

Mehmet Yildiz (Linke) mahnte, die Kinder ernst zu nehmen. Er habe mit vielen von ihnen gesprochen und wisse, dass diese nicht offen reden könnten. Deshalb müsse der Senat nun mit den ehemaligen Friesenhof-Bewohnerinnen sprechen. Auch Anna Galina (Grüne) unterstützte diese Idee. Vom Koalitionspartner in die Enge getrieben, sagte Scheele: „Wir prüfen das.“