: Ein Gespenst namens Nation
RESSENTIMENTS Pegida ist Ausdruck eines nationalistisch-chauvinistischen Protestes. Aber nicht neu: Die nationale Identität wird periodisch aufgerufen
■ ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. Dieses Jahr erschien im Oktober Verlag Münster der neue, inzwischen schon vierte Band mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.
Mit der These, beim Nationalsozialismus handle es sich um eine „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, löste der Historiker Ernst Nolte 1986 vor fast dreißig Jahren den Historikerstreit aus. Natürlich gibt es gar keine Vergangenheit, die irgendetwas will. Die Vergangenheit ist so wenig ein handelndes Subjekt wie die Zukunft. Geschichte hat auch keinen Fahrplan – es sind Nachgeborene, die sich erinnern oder vergessen und verdrängen wollen, und Zeitgenossen, die die Zukunft gestalten möchten.
Viele in diesem Land wollen die Nazi-Vergangenheit vergessen, aber an Nation und nationaler Identität und ungebrochen festhalten. Daraus erklären sich die periodischen Wiederbelebungsversuche an Nation und Nationalbewusstsein seit der Gründung der Sozialistischen Reichspartei (1949) über die NPD (1964), die DVU (1971) bis zu den Republikanern (1983), Pro NRW (2007) und Pegida (2014).
Anschluss vor 26 Jahren
Reanimation und Rehabilitation von Nation und Nationalbewusstsein gingen auch 1989 Hand in Hand. Seither werden politische Kontroversen über Asylbewerber, Einwanderer, Flüchtlinge, Sicherheitsfragen, die demographische Entwicklung und die Finanzierung von Sozial- und Rentenversicherung, aber auch über „islamistische“ Bedrohungen immer begleitet von Debatten über Nation und „nationale Identität“.
1989 stand das Land vor der Alternative: nationalstaatliche Erweiterung durch Anschluss der DDR beziehungsweise „Wiedervereinigung“ oder staatsbürgerlich-republikanische Neugründung. Mit der Entscheidung für die erste Lösung rückte die Nation ins Zentrum, und zwar mit der widerlichen Konsequenz, dass schnell Häuser und Wohnungen von Menschen brannten, die nach dem frisch erweckten Nationalbewusstsein nicht „zu uns gehören“ – im Westen wie im Osten. Einmal mehr erwies sich auferstandenes Nationalgefühl als Brandbeschleuniger gegen Ausländer und Fremde. Pegida ist die letzte Form dieses nationalistisch-chauvinistisch imprägnierten Protests.
In großen Teilen der Presse von FAZ bis Bild stieß die Sehnsucht der Pegida-Deutschen nach einer historisch unbefleckten Nation nicht auf Kritik, sondern wurde als quasi „normale“ Reaktion der von „Ausländerflut“, „Terror“, „Islamisten“, „Jobverlust“ verunsicherten Bürger verharmlost. Intellektuelle und moralische Verbiesterung sind die Signatur der Debatten über Nation und Nationalbewusstsein seit 1989. Damals fiel eben nicht nur die Mauer, sondern mancherorts auch der Respekt davor, populäre nationale Ressentiments zu zügeln und geschichtliche Verantwortung gegenüber nationalsozialistischen Verbrechen zu pflegen.
Verengte Interpretationen
Eine staatsbürgerlich-republikanische Neugründung hätte nicht nationale Ressentiments und Phantome wiederbelebt, wie nationale Blutsverwandtschaft, geburtsrechtliche Privilegien und andere naturalistisch grundierte Ladenhüter aus dem trübe gewordenen Wortumfeld „Volk“, sondern einen rechtlich und kulturell begründeten Patriotismus, wie ihn etwa der aus Palästina stammende Berliner SPD-Politiker Raed Saleh vertritt.
Frei nach Gustav Heinemann verdient nicht Deutschland oder der Staat unsere Liebe oder Anerkennung, sondern unsere Rechtsordnung, die „ein entspanntes demokratisches Miteinander von Religion und Staat“ (Saleh) garantiert sowie das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. In diesem Sinne plädiert Saleh für Stolz auf einen rechtspolitischen Fortschritt sondergleichen – die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft durch die rot-grüne Regierung. Trotzdem möchte Saleh am Begriff „nationale Identität“ festhalten und sie „nicht durch Ausgrenzung, sondern positiv“ definieren. Wie das funktionieren soll, verriet er nicht.
Das nahm der Historiker Peter Brandt zum Anlass für ebenso bemerkenswerte wie grundsätzliche Hinweise. Er beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit Problemen der Nation und des Nationalstaats und rückte dabei vom hermetischen, nur verengende Interpretationen befördernden Begriff „nationale Identität“ mit guten Gründen ab.
Brandt spricht – als linker Sozialdemokrat – vom „nationalen Selbstverständnis eines schwierigen Vaterlandes“ und sieht sich deshalb seit Jahren von politisch verwirrten, sektiererischen Linken als „Vertreter nationalrevolutionären Denkens“ und verkappter „Völkischer“ diffamiert.
Die 1989 verpasste staatsbürgerlich-republikanische Neugründung des Landes auf der Basis eines Grundgesetzes, das den realen sozialen Verhältnissen entsprochen hätte, ist 26 Jahre danach nicht nachzuholen. Brandt sieht in den Nationalstaaten europäischen Typs weder Rettungsringe für Nationen noch Bremsklötze gegen die voranschreitende politische und soziale Integration Europas. Nationalstaaten und EU sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Nationalstaatliche Alleingänge führen in imperiale Abgründe oder – in einer weitgehend globalisierten Wirtschaft – in wirtschaftliche Verelendung.
Demokratisierung der EU
Aus vielen Gründen, vor allem historischen und kulturellen, ist eine „Nation Europa“ beziehungsweise ein homogenisiertes europäisches Volk, das sich nach US-amerikanischem Vorbild als Bundesstaat verkleiden würde, weder absehbar noch erwünscht. Aber die europäische Integration ist angewiesen auf zivilisierte, also national abgerüstete „National“-Staaten, die sich als Fundamente von realen und nicht von eingebildeten „Kommunikations-, Kultur- und Bewusstseinsgemeinschaften“ (Brandt) verstehen. Deren damit verbundenen Souveränitätsverluste müssen allerdings kompensiert werden durch eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU-Institutionen, wenn diese bei den Citoyens als legitim und nicht als bevormundende Bürokratie gelten wollen.
Es ist genau diese nüchterne, aufgeklärt-kritische Sicht auf abgerüstete „Nationalstaaten“, die die Pegida-Deutschen provoziert und ihr besinnungsloses, nationales Gestammel erzeugt. Die abstrakt-negatorische Polemik gegen alles Nationalstaatliche von links ist nur das Spiegelbild dieses Gestammels von rechts. RUDOLF WALTHER