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Archiv-Artikel

Plaste und Elaste aus Kanada

WM AUF KUNSTRASEN Die Kritik am Geläuf flammt erneut auf. Zu heiß, zu künstlich, zu gefährlich – so lauten die Einwände

AUS EDMONTON JÖRG MICHEL

Kevin Koby ist um seinen Job dieser Tage nicht zu beneiden. Koby ist der Chef des Commonwealth Stadium in Edmonton und damit so etwas wie der Herr über den Fußball-Rasen. Über den Kunstrasen, genauer gesagt, denn die Frauen-Fußball-WM in Kanada wird auf Geheiß der Fifa ja auf Plastik gespielt.

„Der Kunstrasen in unserem Stadion ist in einer exzellenten Verfassung“, verspricht Koby und streicht mit der Hand zärtlich über die störrischen Stoppeln. 800.000 Dollar hat er für den neuen Hightechrasen ausgegeben, der zum besseren Spielkomfort mit mehreren Ladungen Plastikgranulat angereichert wurde.

Am Anfang schien auch alles gut zu werden mit dem Belag, der eigens zur Weltmeisterschaft installiert wurde. Die kanadische Spielführerin Christine Sinclair lobte vor dem Eröffnungsspiel den „Turf“, Torhüterin Erin McLeod sprach von guter Qualität, und die Funktionäre der Fifa und des kanadischen Fußball-Verbands hofften, damit sei das unliebsame Thema ein für alle mal erledigt.

Doch es kam anders. Seit ein US-Reporter beim Eröffnungsspiel Kanada gegen China (1:0) am Samstag im Commonwealth Stadium einmal die Temperaturen maß und das Ergebnis auf Twitter veröffentlichte, ist die Kontroverse zurück. Auf satte 49 Grad Celsius hatte sich die Plastikoberfläche erhitzt, und das bei moderaten 23 Grad in der Luft. In den anderen Stadien sah es nicht viel besser aus.

„Das ist ein Albtraum“, wetterte US-Stürmerin Abby Wambach nach dem 3:1-Auftaktsieg ihrer Mannschaft über Australien in Winnipeg. Bundestrainerin Silvia Neid drückte es nach dem 10:0-Schützenfest der Deutschen gegen den Neuling aus der Elfenbeinküste so aus: „Der Rasen ist sehr stumpf und voller Granulat. Wenn man ihn gesprengt hat, ist er in fünf Minuten wieder trocken. Es ist schade um das Wasser.“

Tatsächlich sprenkeln die Verantwortlichen den Kunstrasen vor jedem Spiel, um die Hitze zu dämpfen und die Füße der Spielerinnen zu schonen. Mit einem viertel Zoll Wasser, wie Edmontons Stadionchef Koby voller Stolz erklärt. Umgerechnet sind das etwa sechs Millimeter Feuchtigkeit auf dem ganzen Platz, doch das ist offenbar nicht mehr Wert als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Dazu kommt die Verletzungsgefahr. „Auf Kunstrasen zu spielen verändert alles. Der Ball springt anders, und man überlegt sich, ob man wirklich in ein Tackling gehen oder grätschen soll, weil man sich dann blutige Knie holt oder sich die Hüfte aufschürft“, beschwerte sich Wambach nach dem ersten Match in Winnipeg.

Funktionäre und Hersteller bestreiten die Probleme, halten den Belag für langlebig und sicher. Doch bei der Kontroverse geht es längst um mehr als Schweißfüße oder „Turfburn“, wie in Nordamerika Verletzungen und Schürfwunden genannt werden, die auf stumpfen Spielflächen entstehen.

Für viele Spielerinnen geht es schlicht um Gleichberechtigung. „Männer wären bei Kunstrasen schon längst in Streik getreten“, hatte sich Wambach vor der WM beschwert. Angeführt von Wambach und der deutschen Torhüterin Nadine Angerer hatten 40 Nationalspielerinnen versucht, die Fifa zum Einlenken zu bewegen. Zunächst mit einer Petition, dann mit einer Klage. Ohne Erfolg.

Tatsächlich ist bisher noch keine einzige WM der Männer auf Kunstrasen ausgetragen worden. Bei den beiden Turnieren in Russland 2018 und Katar 2022 wird ebenfalls auf natürlichem Grün gespielt. Die kanadische Männermannschaft hatte sich zuletzt offen geweigert, bei Qualifikationsspielen auf Plastikrasen aufzulaufen.

„Der Kunstrasen ist eine Beleidigung“, schrieb John Doyle von der Zeitung Globe and Mail, einer der bekanntesten Fußballexperten in Kanada. „Wer Frauen zwingt, auf Kunstrasen zu spielen, der legt nahe, dass auch die Sportart künstlich ist. Eine Art Plastikversion des echten Fußball, den Männer selbstverständlich nur auf Gras spielen.“

Viele kanadische Nationalspielerinnen sehen das im Grunde genauso, obwohl sie künstliche Oberflächen gewohnt sind, denn die sind in Kanada wegen der langen Winter weiter verbreitet als in Europa. Mit Rücksicht auf ihren Verband äußern sie sich aber nur hinter vorgehaltener Hand: „Wir müssen uns mit der Spielfläche wohl abfinden“, meinte eine von ihnen. Denn im Verband haben, wie könnte es anders sein, fast nur Männer das Sagen.