: Neuregelung mit eingebauter Ausnahme-Option
GEHEIMDIENST Nach den NSU-Morden soll der Bundesverfassungsschutz mehr Macht und Personal bekommen. An diesem Montag berät der Innenausschuss des Bundestages über ein neues Gesetz. Sachverständige und Hinterbliebene üben harsche Kritik
VON KONRAD LITSCHKO
BERLIN taz | Matthias Bäcker wird deutlich. Das neue Verfassungsschutzgesetz weise „in mehrfacher Hinsicht erhebliche verfassungsrechtliche Mängel auf“, schreibt der Karlsruher Rechtsprofessor in seiner Stellungnahme an den Innenausschuss des Bundestags. Es ermögliche dem Amt einen „annähernd grenzenlosen Datenverbund“. Der Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln sei „verwirrend formuliert“, die Regeln für V-Leute „sehr pauschal und wenig befriedigend“. Harscher geht es kaum.
An diesem Montag wird Bäcker seine Kritik persönlich im Bundestag vortragen. Er ist mit vier weiteren Rechtsexperten in den Innenausschuss geladen, um das neue Verfassungsschutzgesetz zu diskutieren. Angehört wird auch Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Seine Stellungnahme lag der taz vorab vor.
Den Gesetzentwurf hatte das Bundeskabinett im März verabschiedet. Die Reform soll eine Konsequenz aus dem NSU-Versagen sein. Künftig soll der Bundesverfassungsschutz als Zentralstelle fungieren, alle Informationen der Landesämter einsammeln und bündeln. 261 neue Stellen soll es dafür geben und jährlich 17 Millionen Euro extra.
Umstritten ist vor allem die Gesetzesregelung, was V-Leute künftig dürfen oder nicht dürfen. Laut dem Entwurf soll niemand mehr Spitzel werden, wer in Haft saß, wer an einem Aussteigerprogramm teilnimmt oder wer mit dem V-Mann-Salär sein Leben finanziert. Einmal angeworben, dürfen die V-Leute, um nicht aufzufallen, szenetypische Straftaten begehen, nicht aber solche von „erheblicher Bedeutung“. Ausnahmen sollen jedoch möglich sein.
Das kritisiert nicht nur Rechtsprofessor Bäcker als „sehr offen gefasst“. Selbst sein Bayreuther Kollege Heinrich Amadeus Wolff, der das Gesetz insgesamt als rechtskonform wertet, nennt die V-Leute-Regeln „nicht glücklich“. Er plädiert dafür, den V-Leute ausnahmslos alle schweren Straftaten zu verbieten. Auch dass es für die V-Leute keinerlei Verhaltenspflichten oder zeitliche Befristung gebe, sei „nicht verständlich“.
Verfassungsschutz-Chef Maaßen verteidigt den Gesetzentwurf hingegen als „maßvoll“. „Er stellt einen wichtigen und notwendigen Beitrag zur Stärkung der inneren Sicherheit dar“, heißt es in seiner Stellungnahme. Auch die V-Leute-Regeln seien „ausgewogen“.
Dem dürfte am Montag der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer deutlich widersprechen. Er vertritt im Münchner NSU-Prozess die Tochter des ermordeten Mehmet Kubasik. Scharmers Stellungnahme verreißt das Gesetz. Es löse „keines der Probleme“, wie der Staat mit rechter Gewalt umgeht, schreibt Scharmer. „Im Gegenteil werden die Mechanismen verstärkt, die gerade mitursächlich für die fehlende Verfolgung der Mitglieder des NSU waren.“
So bleibe der V-Leute-Einsatz „nahezu unkontrollierbar“. Die Regeln seien so „kaugummiartig“, dass weiter Neonazis, die selbst wegen versuchter Tötungsdelikte verurteilt wurden, angeworben werden könnten – nur dass sie „im Folgenden dann noch weitergehend als bisher vor weiterer Strafverfolgung geschützt werden“. Der viel kritisierte Einsatz von V-Leuten aus dem NSU-Umfeld wie Tino Brandt oder Carsten Szepanski wäre so erneut möglich, so Scharmer. Das Ergebnis sei eine „staatliche Legitimierung u. a. etwa von rassistischen oder neonazistische motivierten Propagandadelikten“.
Insgesamt Einlassungen mit Eklatpotenzial. Denn Scharmers Auftritt hat ein besonderes Gewicht. Der Anwalt betont, nicht nur für sich, sondern auch für eine Reihe von NSU-Hinterbliebenen zu sprechen. Von diesen, schreibt Scharmer, werde die Reform „nicht auch nur ansatzweise mitgetragen“. Vielmehr herrsche dort „Wut und Empörung“, dass „nun auf ihrem Rücken eine der größten Machterweiterungen des Bundesamts für Verfassungsschutz begründet werden soll, die je in der deutschen Geschichte erfolgt ist“.