: Protest und Film
WORT Der Atem des Dagewesenseins –ein Vortrag über Videoaktivismus und deutsche Denker an der FU
Der Tag ist so schön wie ein Gänseblümchen. Am Abend gibt es an der Freien Universität (FU) eine Veranstaltung des von Sarah Dornhof und Frauke Surmann konzipierten Graduiertenkollegs „InterArt“. Die Vortragsreihe handelt von jüngsten Protestbewegungen, in denen sich eine neuartige Verbindung von Kunst und Politik zeige: „Die Vorträge thematisieren die gegenseitigen Veränderungen von Kunst und Politik, wie sie sich in globalen Protestbewegungen ereignen“, heißt es in der Ankündigung.
Um viertel nach sechs also soll Gertrud Koch am Donnerstag einen Vortrag zu „Protest und Film“ halten. Sie ist Professorin für Filmwissenschaft, Mitherausgeberin von Frauen und Film und der Onlinefilmzeitschrift nachdemfilm, die die nachzeitigen Bedingungen des Films thematisiert, die Gespräche etwa, die nach dem Film entstehen, teils ja auch im eigenen Kopf, wenn man allein im Kino war. Ich kann mich noch gut an den Dezemberabend erinnern, an dem die Zeitschrift im Arsenal-Kino vorgestellt wurde, gehe den Landoltweg entlang, am Philosophischen Institut vorbei und erinnere mich an die schöne Welt des Denkens und Wissens, an das Raumschiff FU mit seinen vielen Satelliten, deren seltsamen Bewohner (etwa Sportwissenschaftler, Juristen, BWLer) man beim großen Studentenstreik, 1989, kennengelernt hat.
Das denke ich aber jetzt erst beim Schreiben, fällt mir gerade auf. In Wirklichkeit nehme ich alles eher gedankenlos wahr, und stelle mir nur ganz kurz vor, später zu lügen, ich hätte hier in Dahlem draußen geschlafen, weil es so angenehm ruhig ist. Manchmal sollte man ja etwas Entschiedenes und Mutiges machen. Oder zumindest so tun, als ob.
Die Veranstaltung ist schon im Gange, als ich in den fensterlosen Saal an der Habelschwerdter Allee husche. Hundert Leute sind vielleicht da. Gertrud Koch hat wohl gerade erzählt, dass sie doch keinen Vortrag halten wird. Stattdessen spricht ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Chris Tedjasukmana über Videoaktivismus 2.0 und solche Dinge.
Es ist sehr warm und macht Spaß, hier zu sitzen. Ich notiere alles mit einem orangen Kugelschreiber, den mir Götz Müller von der CDU einmal geschenkt hatte.
Es geht also um verschiedene spektakuläre Fälle eines internationalen Videoaktivismus, wie zum Beispiel das geleakte „Collateral Murder“-Video, und darum, dass viele PolitaktivistInnen über YouTube- und Facebook-Accounts verfügen und wie die Protestler in Hongkong vergangenes Jahr mit Drohnen ihren Protest gefilmt hatten.
Es geht um die Gezi-Park-Proteste, die Ambivalenzen des Click- und Slacktivism, die große Ermüdung nach den sogenannten Facebook-Revolutionen. Chris Tedjasukmana berichtet anschaulich von der ersten Hologrammdemo der Welt, in Spanien, im April: „Der Volkssouverän wird zum Gespenst der Freiheit.“ Das Intro der dazugehörigen Seite erinnert mich an das Intro des Autorennspiels GT6, der Eventcharakter ist ein Problem.
Dann geht es um Jürgen Habermas, Oskar Negt und die anderen Altstars der deutschen Denkerszene, um Tumblr als Medium einer ästhetischen Gegenöffentlichkeit, um Alexander Kluge natürlich und seinen Film „Krieg und Frieden“, der von der großen Friedensdemonstration 1982 in Bonn berichtet. Witzigerweise war ich auch dort gewesen, und es war ein großer Spaß, alle Mitdemonstranten mit „Hallo Friedensfreund“ anzureden.
Ich kann nicht alles genau verstehen, weil ich viele der aktuellen DenkerInnen nicht kenne. Alles ist sehr ambivalent, und ich freue mich schon auf die Zigarette danach, und dann ist der Vortrag schon zu Ende, und Gertrud Koch betont, dass es sich bei Video und Film um unterschiedliche Medien mit einer unterschiedlichen Zeitlichkeit handelt. Der Film ist spät, das Video ist schnell, in ihm weht noch „der Atem des Dagewesenseins“.
Ich denke an die Livestreams vom Gezi-Park in Istanbul und dem Maidan in Kiew und wie einen als Laptop-Zuschauer die Gleichzeitigkeit komplett paralysiert hatte. Und mir gefällt, wie die HeldInnen der eigenen Studienzeit nur noch leiser werdend mitklingen und andere Namen nun den Himmel der Ideen bevölkern. DETLEF KUHLBRODT