piwik no script img

Archiv-Artikel

Eine Sache der Herzen

FANS Heute treffen im Olympiastadion zwei Klubs aus Ländern aufeinander, deren migrantische Community zuletzt rasant gewachsen ist. Für viele Berliner spielen bei der Partie Juventus Turin gegen FC Barcelona auch alte Heimaten mit

Wie viele Fußballfans spricht auch Ansanti stets im „Wir“ von seinem Lieblingsverein

VON RONNY MÜLLER UND JENS UTHOFF

Es waren zwei Dinge, die bei Raúl Gil Benito ganz oben auf der To-do-Liste standen, als er nach Berlin kam. Anfang 2012 war das, der Spanier hatte sich zuvor bei einem Besuch an der Spree frisch verliebt – in diese Stadt. Nun stand da zum einen dieses deutsche Wortungetüm namens Einwohnermeldeamt auf seinem Zettel, dem er sich wohl oder übel widmen musste. Die andere Sache aber, die war weitaus wichtiger: Gil Benito setzte sich an den Rechner, um eine Mail zu schreiben. Der Empfänger war ein Verein, der sich Penya Barcelonista Berlín Culé (PBBC) nennt: ein weiteres, diesmal katalanisches Wortungetüm, das bei ihm angenehmere Empfindungen weckte.

Penya heißt aus dem Katalanischen übersetzt Fanklub. Der PBBC ist nicht irgendeiner dieser Klubs, sondern die offizielle Berliner Fanvereinigung des vielleicht beliebtesten Fußballvereins der Welt: des FC Barcelona. Gil Benito ist heute, dreieinhalb Jahre später, einer der Vorstände der Berliner Penya und hat derzeit eine etwas vollere To-do-Liste abzuarbeiten: Am Samstag ist das große Finale gegen Juventus Turin.

Nervös schaut Gil Benito im Fünfminutentakt auf sein Smartphone und checkt die Nachrichten. Er sitzt im Büro seines Arbeitgebers La Red in Mitte. La Red (Das Netz) ist eine Agentur, die Sprachkurse und Beratung für spanische Ankömmlinge anbietet. „Ich kann noch gar nicht an Samstag und ans Stadion denken“, sagt der 39-Jährige, „erst mal muss das Festessen gut über die Bühne gehen“ – das von seinem Verein eingerichtete Bankett für die anreisenden Fans und den Barça-Tross vorab. Gil Benito, ein gemütlicher Typ mit leicht gräulichem Dreitagebart und spärlicher werdendem Haupthaar, ist einer von vier Berliner Penya-Mitgliedern, die im Olympiastadion sein werden, wenn Barcelona gegen Juventus um die europäische Fußballkrone kämpft.

Barça versus Juve. Messi und Neymar gegen Buffon und Pirlo. Irgendwie könnte man also denken, es sei ein – um mit Jogi Löw zu sprechen – „högschd“ unberlinerisches Spektakel, das sich da heute Abend in Westend zuträgt – abgesehen davon, dass es nun mal zufällig auf Berliner Geläuf stattfindet.

Das stimmt sicher auch, wenn man die Meisterschüler der Fußballkunst betrachtet, die sich auf dem Grün versammeln. Andererseits stimmt’s auch nicht so ganz. Denn abgesehen davon, dass ohnehin fast ganz Berlin mitfiebert, treffen im Olympiastadion auch Klubs aus zwei Ländern aufeinander, deren migrantische Community in Berlin zuletzt rasant gewachsen ist.

Allein offiziell zogen zwischen Mitte 2012 und Ende 2014 etwa 13.000 Italiener und 6.000 Spanier nach Berlin – ein enormer Anstieg, wenn man weiß, dass laut Statistik des Landesamtes insgesamt 31.276 Italiener und 16.717 Spanier in Berlin leben.

„Aber das sind nur die offiziellen Zahlen“, sagt Raúl Gil Benito. „Bei Weitem nicht alle melden sich an.“

Und bei Weitem nicht alle – aber, wie der PBBC zeigt, doch einige – sind Juventino, also Juventus-Anhänger. Oder „Culé“. Culé nennt man die Barça-Fans. Dies wurde abgeleitet vom katalanischen cul, dem Gesäß: In einem der ersten Stadien, wo Barça Anfang des 20. Jahrhunderts spielte, dem Camp de la Indústria, soll man der Legende nach von außen auf den oberen Rängen immer nur die Ärsche der dort hockenden Fans gesehen haben.

Heute Abend werden diese Culé und Juventini zusehen, dass ihr Hintern noch einen freien Platz vor einem Bildschirm in den Kneipen dieser Stadt bekommt – denn genauso wie das Public Viewing am Breitscheidplatz wurde auch das Rudelgucken beim Fanfest am Brandenburger Tor abgesagt. Man habe Angst vor Randale, heißt es. Vor allem vonseiten der Fans, die aus Turin anreisen.

Schwarz-Weiß für Eleganz

Vor Juventus-Fan Giuliano Ansanti muss man wohl weniger Angst haben – und er muss auch nicht eigens aus Turin anreisen. Ansanti ist vor drei Jahren seinen Söhnen zuliebe nach Deutschland gekommen. Bereits in den Achtzigern hat er für vier Jahre hier gelebt. Als die Auswirkungen der Bankenkrise nun für ihn immer spürbarer wurden, hat sich der 46-Jährige dazu entschieden, diesen Weg erneut zu gehen. In seinem Heimatland Italien waren im November vergangenen Jahres knapp 44 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Obwohl seine drei Söhne erst zwischen vier und elf Jahre alt sind, hofft er, ihnen durch den Umzug ein ähnliches Schicksal ersparen zu können: „Ich habe gedacht, dass sie in Deutschland eine Zukunft haben.“

Ansanti liebt den Fußball. „Ich habe schon im Bauch meiner Mutter Fußball gespielt“, sagt er und deutet einen runden Bauch an. Seit er fünf Jahre alt ist, widmet er sein Leben dem „Calcio“, zunächst als Spieler, später als Trainer für Kinder- und Juniorenteams. Über den Fußball haben der Sozialarbeiter und seine Familie auch Anschluss in Deutschland gefunden. Beim einst als Gastarbeiterverein gegründeten Club Italia Berlino koordiniert Ansanti ehrenamtlich die Jugendarbeit und trainiert zwei Mannschaften selbst. Seine Söhne sind als Spieler aktiv. Entspannt sitzt er in Trainingsanzug und neongelbem Sportleibchen auf dem Rasen des Trainingsgeländes in Westend. Das Training der Fünf- bis Sechsjährigen ist gerade vorüber, in den Toren hängen noch die Wimpel der Champions-League-Finalteilnehmer Barcelona und Juventus, sozusagen als Anreiz.

Ansanti stammt aus Süditalien, hat später mit seinen Eltern in Turin gelebt und sogar sieben Jahre in den Jugendmannschaften der vecchia signora (der alten Dame) Juventus gespielt. Diese Zeit hat ihn geprägt: „Ich bin mit meinem Vater früher ins Stadion gegangen, diese Erlebnisse sind in meinem Kopf geblieben. Ich liebe Juventus für die Farben. Schwarz und Weiß stehen für Eleganz, ich kleide mich selbst gern so.“

Wie viele Fußballfans spricht Ansanti stets im „Wir“ von seinem Lieblingsverein, ein untrügliches Zeichen für Identifikation, auch wenn er selbst mit der Turiner Vereinsarbeit nichts zu tun hat. Natürlich verfolge er alle Spiele gemeinsam mit seinen Kindern am Fernseher, immer. Und sie essen Pizza. Wie sollte es auch anders sein? Er zieht die Schultern hoch, ein breites Lächeln überzieht sein Gesicht. Seine Söhne hat der Fan mit dieser Begeisterung angesteckt. Ansantis mittlerer Sohn Andrea rennt mit Freunden abseits des Interviews dem Ball hinterher, natürlich trägt er ein Juve-Trikot. „Fußball ist wichtiger als Schule“, sagt er und flitzt zurück auf den Platz.

Im Gegensatz zu den Barça-Fans sind die Juve-Anhänger in Berlin nicht in Fanklubs organisiert. Die 2009 gegründeten Bianconeri Germania haben sich dem ehemaligen Vorsitzenden Alexander Jach zufolge vor zwei Jahren in mehrere Gruppen aufgespalten, die vom Süden Deutschlands aus agieren. Einige von ihnen haben via Facebook ihre Reise nach Berlin zum Finalspiel angekündigt.

Ansanti habe erst darüber nachgedacht, vorm Olympiastadion zu campen, schaue das Spiel jetzt jedoch lieber mit seiner Familie und Bekannten vom Club Italia. Ein Tipp für das Finale fällt ihm schwer: „Juventus ist heute keine Topmannschaft, aber in einem Spiel kann alles passieren. Mein Herz sagt 2:1.“

Ein Herz muss bluten

Die Herzen im Kino Zukunft nahe dem Ostkreuz würden bluten, behielte Ansanti recht. Denn dort, wo der Barça-Fanklub jedes Spiel seiner Lieblinge schaut, richtet er nun ein großes Fanfest aus, zu dem 700 Leute erwartet werden. Ricard Camps, ein treuer Penyaner, wird diesmal nicht im Kino dabei sein. Wie Raúl Gil Benito bekam auch er eines der begehrten Tickets fürs Olympiastadion. Der gebürtige Barceloner hat alles mit der Penya mitgemacht: Die Anfänge des Berliner Fanklubs in der Kneipe Oscar Wilde in Charlottenburg. Die Fusion der zweiten Welle von zugezogenen Barça-Fans mit dem bereits 1997 von sechs Deutschen gegründeten PBBC. Und dann der Ritterschlag vonseiten des Vereins aus der katalanischen Hauptstadt, der die Penya 2006 zum offiziellen Berliner Fanklub kürte.

Während Camps eine Selbstgedrehte anzündet, erzählt er von den aus Barcelona nach Berlin kommenden Fanhorden – und dem Transportproblem: „Es gibt keinen Bus, keinen Mietwagen, keinen Minivan mehr für Samstag in Berlin“, sagt er. „Wir fragen inzwischen schon in Polen nach Leihwagen.“

Auch Camps ist „wegen der Liebe“ nach Berlin gekommen. Allerdings nicht aus Liebe zur Stadt, sondern wegen einer „echten Berlinerin“. Es klingt fast stolz, wie er das sagt. Der 38-Jährige ist zwar kein Wirtschaftsmigrant, aber er profitiert heute vom hiesigen Tourismusboom: Gemeinsam mit einer Freundin hat er ein Unternehmen aufgebaut, das Stadtführungen für Spanier und Katalanen anbietet.

Zwischen Spanien und Katalonien trennt der Barça-Anhänger strikt. Er verstehe sich zwar nicht als stolzer Katalane, aber er sagt, die Geschichte habe halt diese Gräben geschaffen. „Mein Vater kann nicht in seiner Muttersprache schreiben“, sagt er, „er muss mich jedes Mal fragen, wenn er etwas auf Katalanisch schreiben will.“ Sein Senior gehört jener Generation an, deren Sprache durch die Franco-Diktatur unterdrückt wurde. Die Nachwirkungen haben sich bekanntermaßen tief ins kollektive Gedächtnis der Katalanen eingeschrieben.

Die Geschichte ist auch ein Teil von Barça: dass etwa im Spanischen Bürgerkrieg der damalige Klubpräsident Josep Sunyol von Francos Truppen hingerichtet wurde. Der Verein ist bis heute Symbol und wichtigster Pfeiler katalanischer Kultur.

In der italienischen Fußballkultur wiederum polarisiert Juventus ähnlich wie hierzulande der FC Bayern München und hat Anhänger in ganz Italien. Giuliano Ansantis Fan-Geschichte ist dabei typisch für Arbeiterfamilien, die vom Süden Italiens in den Norden migriert sind. Als Zugezogener entschied sich Ansanti, aus Brindisi im äußersten Süden stammend, für Juventus, während der Stadtrivale FC seine Anhänger vorwiegend unter alteingesessenen Turinern findet.

Ein Gefühl von Heimat

„Es geht um Fußball, aber es geht auch um Heimat“, sagt Penya-Vorstand Raúl Gil Benito, „zu unseren Treffen kommt immer eine Gruppe von Katalanen, die aus der gleichen Gegend stammen – auch das ist eine Motivation, uns beizutreten.“

Gil Benito selbst hat eine außergewöhnliche Migrationsgeschichte: Er hat in Spanien Jura studiert und arbeitete für die spanischen Sozialisten als Chef eines EU-Abgeordnetenbüros in Brüssel, ehe er alles hinschmiss und in Berlin zunächst jobbte und ein neues Leben anfing. Zwischendurch sagt er entsprechend pathetisch klingende Sätze, die jeder Berlinmarketingguru sich wohl als Credo gern eintätowieren lassen würde: „Hier in Berlin habe ich die Freiheit gefunden.“ Warum ihn der Geist der Stadt bis heute reize, erklärt der aus Santander stammende Gil Benito aber auch, schließlich sei er „in Spanien in einer superkonservativen Stadt aufgewachsen“.

Auf seinem Desktop laufen während des Gesprächs immer weitere Mails ein. Tag X rückt näher. „Ich bin etwas überfordert diese Woche“, sagt Gil Benito. Er trägt ein Barça-Trikot. Die Nummer 10, Messi. Der Säulenheilige des Klubs. Ein Autogramm des argentinischen Wunderdribblers ziert das Trikot. Zwischen Lunge und Niere steht mit Edding auf Polyester dieser kleine Schriftzug geschrieben: „LEO“. Könnte sein, dass dieser Leo heute Abend sein nächstes Meisterstück auf Berliner Rasen vorlegt. Die Juventini würde es schmerzen. Und auf Raúl Gil Benitos To-do-Liste stünde dann nur Folgendes: Party, Party, Party.