: Die Lage ist bedrohlich
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN „Osteuropa“ untersucht den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine mit Blick auf den Donbass
Wie sieht die Lage in der Ukraine eigentlich im Detail aus? Was ist von der Politik Russlands zu erwarten? In der aktuellen Ausgabe von Osteuropa, die unter der Überschrift „Zerrissen. Russland, Ukraine, Donbass“ steht, geben die Autoren einige Empfehlungen an den Westen, wie man sich dem Kreml gegenüber verhalten kann, und untersuchen die Entwicklungen in Russland und der Ukraine.
Die Situation im Donbass schildert der russische Historiker Nikolay Mitrokhin. Er hält zunächst fest, dass die ukrainische Regierung dadurch, dass sie Ende 2014 alle Staatsbeamten aus dem Donbass abgezogen und die Zahlung von Sozialleistungen eingestellt habe, „die Verantwortung für die Lage im Donbass de facto an Russland übergeben“ habe. Russland schicke Hilfe, die jedoch meistens nicht bei den Menschen ankomme. Ersatz für die fehlenden höheren Beamten in den Gebietshauptstädten sei schwer zu finden, die „Volksbürgermeister“ in den von den separatistischen Kämpfern kontrollierten Städten seien ehemalige drittrangige Verwaltungsbeamte oder Kleinunternehmer.
Eine positive Entwicklung sieht Mitrokhin im Misserfolg des Projekts „Novorossja“ (Neurussland), mit dem Russland staatliche Strukturen in den besetzten Gebieten aufbauen wollte. Zwar werde nach wie vor Propaganda für Novorossja betrieben, doch habe Moskau dadurch, dass es die in den „Volksrepubliken“ im Donbass anfangs eingesetzten russischen Nationalisten wieder von den entscheidenden Posten verdrängt habe, das Scheitern des Projekts praktisch anerkannt. Ungeachtet dessen sei die Lage bedrohlich, da bewaffnete Gruppierungen im Donbass weiter die Bevölkerung bedrohen, während deren Vorräte knapper werden.
Eine solche paramilitärische Gruppe ist das ukrainische Freiwilligenbataillon Azov in Mariupol. Die Rechtsextremismusforscher Tetjana Bezruk und Andreas Umland nehmen sich den „Fall Azov“ vor, um die nationalistische Gesinnung ihrer Führung zu schildern, die mit Äußerungen über die „Reinheit des Bluts“ auffällig geworden ist. Gleichwohl sei Russisch bei der Azov-Miliz die Umgangssprache, wie es auch andere Widersprüchlichkeiten gebe. Insgesamt sei Azov aber ein untypisches Beispiel und könne nicht als Beleg dafür gedeutet werden, dass sich neonazistisches Gedankengut in der Ukraine ausbreite.
Eine rasante Zunahme von Fremdenfeindlichkeit, nationalem Überlegenheitsgefühl und antidemokratischen Einstellungen sieht der Kulturwissenschaftler Michail Jampolskij dafür in Russland. Ein faschistisches Bewusstsein sei dort längst zur Massenerscheinung geworden – als verspätete Reaktion auf den Zerfall des sowjetischen Imperiums.
Der ehemalige Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, Falk Bomsdorf, sieht in der Politik des Kremls gar einen „Revisionismus aus Überzeugung“, für den der Untergang der Sowjetunion „die schlimmste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei, wie er Putin zitiert. Die Annexion der Krim und die folgenden Operationen seien denn auch Anzeichen dafür, dass Putins Politik einer langfristigen Strategie folgt.
Die Lenin-Frage „Was tun?“ beantwortet Bomsdorf erstaunlich scharf: Eine Fortsetzung der strategischen Partnerschaft mit Moskau sei nicht möglich. Der Westen müsse mit Russland zusammenarbeiten, „wo immer möglich“, und Widerstand leisten, „wo immer nötig“. Das schließe auch militärische Mittel nicht aus. Vor allem Deutschland müsse „überhaupt verteidigungsfähig“ sein. Denn die „Friedensdividende“ sei „aufgebraucht“.
TIM CASPAR BOEHME
■ „Osteuropa“, 65. Jahrgang, Heft 1–2, Januar–Februar 2015, 10 Euro