: Jetzt sind alle verdächtig
THEATER Das Projekt „Supernerds“ von Angela Richter strickt im Schauspiel Köln fleißig am Mythos vom Kampf gegen das Böse
Das Kölner Theaterpublikum wohnt linksrheinisch. Das ist das Erste, was man in „Supernerds“ lernt. Mithilfe der Postleitzahl der Zuschauer, einer Wärmekamera und der Abwärme eines Smartphones wird gezeigt, welche Theatergäste aus den eher angenehmen Stadtteilen im Linksrheinischen und welche aus den ehemaligen Arbeiterstadtteilen im Rechtsrheinischen kommen. Willkommen in der Überwachungsgesellschaft, präsentiert von Theaterregisseurin Angela Richter und dem WDR.
Anderthalb Stunden lang ging es letzte Woche im Schauspiel Köln um Leaks, gehackte Handys und die Weitergabe von Daten – im TV als Verbraucherberatung, auf der Bühne als Dokumentartheater. Angela Richter hat für ihr Stück Interviews mit den wichtigsten Protagonisten der NSA-Enthüllungen geführt, der WDR hat das mit einem Abendprogramm über Big Data und Internetüberwachung flankiert. Bettina Böttinger klärte das Publikum im Tonfall einer Nachrichtensprecherin über die Ausspähmöglichkeiten im Netz auf, während ihr Kollege Richard „Wir im Internet“ Gutjahr erklärte, wie man die Kamera eines Smartphones aus der Ferne aktiviert. Mein jugendlicher Sitznachbar ist dann auch ziemlich überrascht, als sein Gesicht auf der Leinwand auftaucht, weil man seine Frontkamera gehackt hat.
Trotzdem hat „Supernerds“ ein grundsätzliches Problem: Alles, was im Schauspiel aufwendig vorgeführt wird, weiß man als durchschnittlich informierter Mensch schon. Teenager überkleben gerne die Webcam ihrer Laptops, damit diese nicht ohne ihr Wissen Bilder aufnehmen können. Und um zu zeigen, welche persönlichen Details man mithilfe von Informationen aus sozialen Netzwerken rausfinden kann, braucht Jan Böhmermanns Comedysendung nur zehn Minuten – und nicht eine Abendshow.
Leider setzt Richters Inszenierung keinen Kontrapunkt dazu. Sie hat einige Protagonisten des NSA-Skandals interviewt, darunter Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden, aber auch weniger prominente Figuren wie den Journalisten Barrett Brown, der lange als das öffentliche Gesicht von Anonymous galt und mittlerweile in Haft sitzt. Sie alle erzählen, wie nach dem 11. September 2001 ihr Glaube an das amerikanische politische System erschüttert wurde und die US-Behörden nach ihrem Whistleblowing ihre Existenz vernichtet haben.
Angela Richter kontrastiert diese Geschichten dabei mit einer Trash-Kulisse aus Schaufensterpuppen und überlebensgroßen Figuren von Merkel und Putin aus dem Karnevalszug. So viel Humor ist auch nötig, denn „Supernerds“ strickt fleißig am Mythos des heldenhaften Kampfs einiger Aufrechter gegen das Böse. Gegen Ende des Stücks wird Julian Assange als Hologramm aus London projiziert. Assange ruft das Publikum an und verkündet, damit seien alle Zuschauer jetzt verdächtig. Böttinger macht ein ernstes Gesicht dazu. Fragen nach der Kritik an Assanges Führungsstil und den Vergewaltigungsvorwürfen? Fehlanzeige. Jede Marvel-Verfilmung präsentiert ambivalentere Helden.
Dazu passt, dass „Supernerds“ nur eine Form der Überwachung kennt: die, bei der der Ami – die NSA, Facebook oder Amazon – was mit „unseren“ Daten macht. Und nicht etwa das in Deutschland entwickelte Paybacksystem oder die Hartz-Gesetze, die SGB-II-Empfänger zur Angabe ihres Aufenthaltsorts und ihres Kontostands gegenüber den Behörden zwingen. Das Kölner Theaterpublikum wohnt eben linksrheinisch.
CHRISTIAN WERTHSCHULTE