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Archiv-Artikel

Kant die Kante geben

PHILOSOPHIE HEUTE Zur Kritik des metaphysisch reinen Bierdeckels

Auf einem normalen Bierdeckel lässt sich das Werk des Philosophen Kant nicht unterbringen

Es ist eine goldene Regel der Philosophie, dass jede Erkenntnis auf einen Bierdeckel passen muss. Auch dem ungeübten Leser wird schnell klar, dass Kant mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ dieses Ziel mehr als verfehlt hat. Selbst in 8-Punkt-Schrift wird man sein Werk kaum auf einem handelsüblichen Bierdeckel unterbringen können. Das haben Untersuchungen am Institut für Gärungsgewerbe in Leipzig sowie Trinktests unter Echtzeitbedingungen am Seminar für Philosophie und Biotechnologie in Bayreuth ergeben.

Lässt man Kants Zueignung zu Beginn des Werkes weg, gelingt es gerade mal seine Vorrede bis „… unverdächtig scheinen“ auf einem Bierdeckel unterzubringen, wird der Zeilenabstand verringert, gelangt man immerhin bis zu dem Wort „Metaphysik“.

Damit hat man jedoch noch nichts über Raum und Zeit als die zwei Formen rein sinnlicher Anschauung erfahren und ist natürlich Welten entfernt von der „Auflösung der kosmologischen Ideen der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen“ (I. Transzendentale Elementarlehre, 2. Abteilung, 2. Buch, 2. Hauptstück, 9. Abschnitt, III). Hier wäre man jedoch immer noch nicht am Schluss des Werkes (Ende) angekommen, das Deckel-Buch-Problem bliebe also ungelöst.

Selbst wenn man sich einen Deckel für ein gewöhnliches Bierfass vorstellt, bleibt es nach den Regeln der Vernunft problematisch, Kants Ideen vollständig auf ihm unterzubringen. Das gilt ausnahmslos für alle Fassgrößen von drei bis 200 Litern, jede Biersorte wie Altbier, Bockbier oder Karamell-Klosterbier sowie für alle gebundenen oder broschierten Kant-Ausgaben.

Versuche das Fass mit Bierdeckeln statt Bier zu füllen, auf denen die einzelnen Kapitel aus Kants Vernunft abgedruckt sind, führen zu kaum besseren Ergebnissen. Folgt man der Badischen Schule, müsste das Fass so groß wie die Uni Heidelberg sein, die sich aber nach Versuchsende nur schwer mit Bier auffüllen ließe.

Ein vernünftiges Brauhaus mit Kants Gedanken zu füllen, wäre dagegen möglich, aber problematisch, weil es die Form eines Bierkastens hätte und eher dem Reinheitsgebot als der reinen Vernunft verpflichtet wäre. Zudem würde man das Brauhaus nur als Mittel, aber nicht als Zweck gebrauchen. Diese Erkenntnis gilt unabhängig davon, ob die Bierdeckel rund (107 mm Durchmesser, 1,4 mm stark, beidseitig gedeckte Pappe) oder eckig (93 x 93 mm, 1,4 mm stark, mit abgerundeten Ecken) sind.

„Kein Kant-Bier ist kein Kant-Bier ist kein Kant-Bier“ mag sich jetzt mancher an einen heiteren Trinkspruch unter Glaubensphilosophen erinnert fühlen. Diese launigen Worte bleiben im oben genannten Zusammenhang aber ohne jede Bedeutung, weil es hier nicht um Kant-Bier beziehungsweise kein Kant-Bier geht, sondern um Bierdeckel, ergo nicht um eine Form des inneren Sinnes (Bier), sondern des äußeren (Tresen- und Biertischgestaltung). Wer sich auf etwas, das es gar nicht gibt, bezieht, sollte darauf achten, dass es auch einen Bezug zu nichts gibt, sonst hat man nämlichen keinen Bezug zu etwas, in diesem Fall eben Bierdeckel.

Oder anders gesagt: Biergläser ohne Inhalte sind leer, Bierdeckel ohne Beschriftungen sind blind. Kant selbst war das Bierdeckelproblem bekannt, bierdeckelgerechte Formeln seines Werkes hat er jedoch grundsätzlich abgelehnt.

Einmaischen, Abläutern, Maltoserast – wo es der Braukunst gelingt, die Welt anschaulich auf den Begriff zu bringen, scheitert der große Philosoph, seine Ideen zu fassen; wo manches Bier nach drei bis vier Tagen schlauchreif ist, findet Kants Kritik nicht einmal auf einem überdimensionierten Deckel Platz.

Auch bei einer alten, mit Bier gefüllten und einem passenden Untersetzer versehenen Zinkwanne würde der Hauptvertreter der „Axiome sind sexy“-Bewegung die Bierdeckelmaxime nicht erfüllen. Ein einfacher Biertank bewahrt ohne Weiteres die einzigartigen Geschmackseigenschaften, die Frische und höchste Qualität des gezapften Bieres, nur Kants Ausführungen wollen nicht auf einen Tankdeckel passen, auch wenn man von einem Fassungsvermögen von zehn Hektoliter Bier ausgeht.

Versuche, stattdessen eine alte Klosterbrauerei mit einem Deckel zu unterlegen und diesen mit Kants Kritik zu beschriften, gelten inzwischen als gänzlich gescheitert.

Als Ideal erscheint dagegen ein großer Biersee, auf dessen Boden Kants Gedanken nach systematischem Leertrinken vollständig zu lesen wären. Inwiefern diese danach noch zu erkennen sind, wäre dann jedoch ziemlich egal. JAN ULLRICH