: Der Mythos von den „Digital Natives“
MEDIENKOMPETENZ Die Schulen in Deutschland haben Nachholbedarf beim Einsatz digitaler Medien. Die Große Koalition arbeitet an einem „Pakt für digitale Bildung“
VON OLE SCHULZ
Sind die jungen Menschen von heute alle „Digital Natives“, die mit PC-Programmen und Tablets spielerisch leicht umgehen können, oder droht ihnen angesichts ihrer Abhängigkeit von der virtuellen Welt eine „digitale Demenz“, wie der Hirnforscher Manfred Spitzer mahnt? Die Debatte über die digitale Bildung hat hierzulande jedenfalls manchmal den Charakter eines Kulturkampfs, manche befürchten gar eine „Zwangsdigitalisierung“ der deutschen Schulen.
Die unterschiedlichen Positionen spiegeln sich auch in der schulischen Praxis wider: Während am bayerischen Eliteinternat Salem zum Beispiel der Gebrauch von Smartphones untersagt wurde, werden an der Gesamtschule Xanten-Sonsbeck in Nordrhein-Westfalen die eigenen Geräte der Schüler gemäß dem Motto „Bring your own device“ ganz bewusst im Unterricht eingesetzt. Für ein zeitgemäßes nachhaltiges Lernen „gehören Kenntnisse moderner Kommunikationsmedien“ und „eine Sicherung der Medienkompetenz einfach dazu“, erläutert Schulleiterin Regina Schneider diesen Ansatz.
Fest steht, dass dabei gerade an den Schulen in Deutschland Nachholbedarf besteht. Zuletzt war es die internationale Vergleichsstudie ICILS, welche entsprechende Mängel offenbart hat – und damit auch den Mythos widerlegt, dass der alltägliche Umgang mit Computern und Smartphones quasi automatisch zu umfassender Medienkompetenzen führt. Nach der im Herbst vorgelegten repräsentativen Studie liegen Achtklässler in Deutschland bei Aufgaben zur Recherche und zum Verständnis von Informationen aus dem Internet sowie der Bedienung klassischer Computeranwendungen nur im Mittelfeld von 19 Ländern aus Europa, Asien, Australien und Südamerika.
Ein Grund dafür dürfte die vergleichsweise schlechte technische Ausstattung an den deutschen Schulen sein. So steht in Deutschland laut der Studie nicht einmal jedem zehnten Schüler ein Tablet zur Verfügung – in Australien sind es fast zwei Drittel. Doch gerade mobile Geräte gelten als besonders geeignet für ein individualisiertes und kompetenzorientiertes Lernen.
Ein weiterer Befund der ICILS-Studie ist allerdings noch besorgniserregender: Es sind vor allem Jungen aus sozial schwachen Familien, die über sehr geringe digitale Kenntnisse verfügen. Eine „stabile soziale Spaltung“ verlaufe in Deutschland „entlang der sozioökonomischen Verhältnisse und des Bildungsstandards“, beschreibt die SPD-Bundestagsabgeordnete Saskia Essen diesen Zustand. Als Berichterstatterin für digitale Fragen der SPD-Bundestagsfraktion hat Essen an dem Antrag mitgearbeitet, welchen die Große Koalition Ende März in den Bundestag eingebracht hat: Mit einem „Pakt für digitale Bildung“ will die Bundesregierung vor allem die Computerkenntnisse der Schüler verbessern und die Arbeit mit digitalen Lernmaterialien im Unterricht stärken.
Allerdings dürfte das in der konkreten Umsetzung mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein – denn in Deutschland ist Bildung Ländersache. Zwar hat die Kultusministerkonferenz 2012 „Empfehlungen zur Medienbildung“ verabschiedet, sie sind aber äußerst allgemein gehalten und haben keinen verpflichtenden Charakter, sodass sie von Bundesland zu Bundesland anders umgesetzt werden und es bisher oft vom Engagement einzelner Schulen oder Lehrer abhängig ist, ob und wie neue Lernformen umgesetzt werden.
Der Antrag der Großen Koalition schlägt darum auch einen Länderstaatsvertrag vor, um Maßnahmen zum digitalen Lernen einheitlich zu verankern – sowohl in den Curricula wie in der Lehrerbildung. Denn in der Lehrerausbildung und -weiterbildung ist der Erwerb digitaler Kenntnisse bislang zumeist fakultativ und nicht verpflichtend.
Die Experten zum Thema digitale Bildung sind sich indes weitgehend einig, dass der Einsatz digitaler Medien in der Schule zwar kein Wundermittel ist, aber eine Menge Vorteile bietet, wenn er denn didaktisch vernünftig aufbereitet wird. Am Ende geht es laut Bildungsforscherin Heike Schaumberg aber weniger darum, dass die Schüler zum Beispiel Anwendungen zur Textverarbeitung, Präsentation oder Tabellenkalkulation erlernen, sondern vielmehr um die Schlüsselkompetenz, Informationen zu finden, vernünftig zu verarbeiten, einzuordnen und aufzubereiten.
Schaumberg nennt diese Fähigkeiten die „Grundlage, um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“. Angesichts übermächtiger Internetkonzerne und unkontrolliert schnüffelnder Geheimdienste werden dabei zunehmend nicht nur rechtliche Fragen wichtiger, sondern auch grundlegende technische Kenntnisse: um seine persönlichen Daten vor Zugriffen Dritter zu schützen.