: „Bremen sticht heraus“
BETEILIGUNG Sozial nicht repräsentativ war die Bürgerschaftswahl laut Bertelsmann-Stiftung: Christina Tillmann erklärt, warum Wahlrechtsreformen allein da nicht helfen
■ 35, Verwaltungswissenschaftlerin, ist Senior Project-Manager beim Programm „Zukunft der Demokratie“, dem Demokratie-Audit der Bertelsmann-Stiftung.
INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER
taz: Frau Tillmann, die Studie zur Bremer Wahl ist die vierte einer Reihe von Untersuchungen zur sinkenden Wahlbeteiligung: Warum haben Sie 2013 begonnen, die zu beobachten?
Christina Tillmann: Vor der Bundestagswahl 2013 hatte es eine ganze Reihe von Statements Prominenter gegeben, die offensiv ihre Wahlenthaltung begründet haben: Das reichte vom Schauspieler Moritz Bleibtreu bis zum Philosophen Peter Sloterdijk …
… ich erinnere mich an den Soziologen Harald Welzer …
Die Debatte hat damals in den Medien sehr großen Raum eingenommen. Für uns ergab sich daraus die Frage: Sind das wirklich die typischen NichtwählerInnen? Denn erst, wenn man weiß wer die Nichtwähler sind und warum sie nicht mehr wählen, kann man sich Gedanken machen, ob und welche Hebel es gibt, Menschen wieder für die Stimmabgabe zu motivieren.
Aber das sind nicht die typischen NichtwählerInnen?
Nein, das Profil trifft auf die allermeisten NichtwählerInnen nicht zu. Unsere Analysen setzen die Wahlbeteiligung eines Ortsteils in Bezug zu sozialen Indikatoren, wie z.B. Arbeitslosenquote und Bildungsniveau. Durchweg zeigt sich dabei sehr deutlich: Je prekärer die Lebensverhältnisse in einem Ortsteil, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung. Die Wahlbeteiligung sinkt also nicht gleichmäßig über alle Schichten der Gesellschaft, sondern ist sozial gespalten: Es sind vor allem die sozial benachteiligten Milieus, die sich zunehmend aus der demokratischen Teilhabe verabschieden.
Der Befund hat sich in Bremen auch bestätigt?
Bremen sticht heraus – weil sich das Bild dort zuspitzt: Die Wahlbeteiligung war extrem niedrig, der Unterschied zwischen den Ortsteilen mit niedriger und hoher Beteiligung ist mit 35 Prozentpunkten hoch und weist auf eine deutliche soziale Spaltung hin. Zugleich war der Anteil der ungültigen Stimmen erhöht – und auch hier wieder besonders in den sozial benachteiligten, bildungsferneren Ortsteilen …
Der Anteil lag bei etwas über drei Prozent?
Ja, das ist dreimal so hoch, wie im Durchschnitt bei der Bundestagswahl, vergleichbar mit Hamburg, das ein ähnlich komplexes Wahlrecht hat …
… dabei ist das bisschen Kumulieren und Panaschieren doch harmlos verglichen mit dem, was es anderswo auf kommunaler Ebene gibt?
Das stimmt, in Baden-Württemberg kann man teilweise über 40 Kreuzchen auf die Wahlvorschläge verteilen.
Die Idee des neuen Wahlrechts war ja auch eine Reaktion auf die Kritik, dass die Repräsentation durch ein Kreuzchen an einer Liste nicht ausreichend, nicht mehr zeitgemäß sei. Hat man da in genau die falsche Richtung reformiert?
Das kann man so nicht sagen: Was sich feststellen lässt, ist, dass das neue Wahlrecht bis jetzt nicht dazu beiträgt, die soziale Selektivität zu verringern, sondern sie eher verschärft.
Aber es hat sie nicht verursacht: Wäre eine neue Reform des Wahlrechts dann die richtige Antwort – oder verdeckt die Diskussion darum nur die wirklichen Probleme?
Um die Wahlbeteiligung nachhaltig zu steigern, braucht es sicher ein Bündel an Maßnahmen,, die die unterschiedlichen Nichtwählertypen wieder für eine Stimmabgabe bei der Wahl motivieren. Änderungen im Wahlrecht oder Kampagnen in NichtwählerInnenhochburgen sind Optionen, die zurzeit öffentlich und politisch diskutiert werden.
Wobei in Bremen ja der Zorn groß war, als der Landeswahlleiter die Wahlunterlagen in leichter Sprache vorgestellt hat, als eine Maßnahme, um die Teilnahme bildungsfernen WählerInnen zu erleichtern: Hat wirklich niemand ein Interesse daran?
Alle etablierten Parteien leiden unter der niedrigen Wahlbeteiligung und erreichen in den Nichtwählerhochburgen deutlich weniger WählerInnen als im Landesschnitt. Das zeigt: Die Verankerung der Parteien in diesen Ortsteilen erodiert. Einzige Ausnahme sind die Bürger in Wut, auf allerdings sehr niedrigem Niveau.
Die Frage bleibt: Wie das Nichtwählen deuten, ohne die AbstinentInnen zu entmündigen, indem man ihnen Absichten unterstellt, die man dann verstanden zu haben behauptet …
Wenn Bundestagspräsident Lammert die Nichtwählenden als „die bräsig Zufriedenen“ bezeichnet, mag das für einen geringen Teil der NichtwählerInnen zutreffen. Aber der typische NichtwählerIn ist damit nicht erfasst.
Allerdings hat ja gerade Bremen viele Maßnahmen längst ergriffen, von denen man sich erhofft, dass sie aktivieren, angefangen von der Erleichterung direktdemokratischer Prozesse – macht das nicht etwas ratlos?
Manche Maßnahmen brauchen Zeit zur Entfaltung, weil es ein Lernprozess ist, zu bemerken, dass man etwas ausrichten kann, wenn man sich beteiligt – sei es bei Wahlen, bei Bürgerentscheiden oder in Dialogverfahren mit der Politik.
taz Salon am 9. 6.: Viele Kreuze – wenig Wähler, Bremens Wahl und die Zukunft der Demokratie, Lagerhaus, 19 Uhr