SPEZIALWISSEN KARNEVAL
: Open Air zu Hause

In diesem Jahr schienen weniger da zu sein als sonst

Früher war der Karneval der Kulturen der Höhepunkt des Sommers, den man immer ähnlich beging. Am Vormittag drehte man ein paar Sportzigaretten vor und ging dann gegen halb eins in die Urbanstraße, wo der Umzug losging. Man traf viele Freunde, die zum Beispiel auf dem Wagen des Hauses der Kulturen der Welt standen und kifften oder wie A. auf einem Trecker so dionysosmäßig mit wildem Blick Hanfsamen ins Volk warfen. Am Nachmittag kamen Freunde vorbei – ich bin ja Anwohner – man kiffte ohne Ende, Z. trank acht Bier und einmal streiften wir auch auf Pilzen durch die Gegend. Es machte immer Spaß, angedichtet ein Bad in der Menge zu nehmen; man tauchte in fremde Atmosphären, fantasierte über die Leute, die man sah, und trank abends Tee in dem Zelt der Mongolen.

Jedes Jahr vermehrte sich das Spezialwissen über den Karneval und das Fest am Blücherplatz. Von dem eigentlichen Umzug bekommt man schon lange nicht mehr viel mit – die Besucherzahlen haben sich ja vervielfacht, während die Route des Umzugs nur noch halb so lang ist. In diesem Jahr schienen weniger da zu sein als sonst, aber das kam vielleicht auch, weil ich allein unterwegs war, mit Sonnenbrille, damit die Welt besser aussieht. Später nahm ich sie wieder ab, damit ich besser aussehe.

Bei diesem Jahrgang fielen mir vor allem die roten Luftballons unterschiedlicher Hersteller auf. Drei hübsche Latinas liefen mit „Jesus liebt dich“ durch die Gegend, andere machten für die „Sparkasse“ Reklame und die „SPD“ war auch dabei.

Aber eigentlich war ich die meiste Zeit zu Hause bei offener Balkontür, genoss das Getrommel, schlief sehr gut, da es in den Nächten viel leiser war als gewöhnlich. Ich fühlte mich wie ein privilegierter Besucher auf einem Open Air, mit dem Unterschied, dass ich die Acts nicht anschaute und die Nächte in meinem Bett schlief. DETLEF KUHLBRODT