: „Aufgeräumt wird morgen“
HAUSBESUCH Er versucht die Hausprojekt-Szene in Leipzig ins digitale Zeitalter zu bringen: Carlo Michaelis
VON IMRE BALZER (TEXT) UND BIRGITTA KOWSKY (FOTO)
Leipzig, Volkmarsdorf. Zu Besuch bei Carlo Michaelis (25) in der Eisenbahnstraße 125 beim Hausprojekt „Schlicht & Ergreifend“
Draußen: Zwischen leer stehenden Häusern, Dönerläden und Spielhallen erste Galerien und ein Antiquariat – Vorboten künftiger Mieterhöhungen. Die 125 ist ein einfaches Wohnhaus mit vier Etagen, ein gelbes Banner mit der Aufschrift „Ausbauhaus“ gibt einen Hinweis auf das Hausprojekt.
Drin: Die geräumige Küche ist unaufgeräumt, auf dem Tisch die Reste des Frühstücks, Brot, Honig, Marmelade, eine leere Tasse. Im Regal: Sellerie und Karotten, Fotos und Einmachgläser. In der Ecke ein Kohleofen. „Aufgeräumt wird morgen“, sagt ein Bewohner. Carlos Zimmer: ordentlich und sauber. Auf dem Schreibtisch zwei große Bildschirme, drei Bücher, sonst nichts.
Was macht er? Carlo arbeitet als freier Webdesigner und studiert Psychologie und Physik an der Uni Leipzig. Während seines Freiwilligen Sozialen Jahrs in Hessen besuchte Carlo seine Freundin oft in Leipzig. Die wohnt in der Eisenbahnstraße und hat Freunde in der Nummer 109, damals eines der ersten Hausprojekte in der Gegend. So kam er in die Stadt und in die Hausprojekt-Szene, die sich zu der Zeit im Leipziger Osten zu entwickeln beginnt.
„Schlicht & Ergreifend“: Im Herbst 2013 beginnt eine Handvoll Studenten mit dem Ausbau der Eisenbahnstraße 125. Das Haus stand lange leer und ist in desolatem Zustand, die Wände unverputzt, die Böden roh, Heizung oder Sanitäranlagen gibt es keine. Über einen Verein wird es als sogenanntes Ausbauhaus vermittelt. Das bedeutet für die Bewohner: wenig oder keine Miete zahlen, als Gegenleistung renovieren. Es entstehen vier WGs mit 20 Bewohnern, sie nennen ihr Projekt „Schlicht & Ergreifend“. Carlo kommt im Februar 2014 dazu. Er wohnt zu der Zeit im Nachbarhaus, sieht, was da im Hof vor sich geht und fragt, ob er einziehen könne. Er kann. Die Hausgemeinschaft will mehr sein als nur eine Gruppe guter Freunde. An einem Wochenende fährt das gesamte Haus aufs Land und erarbeitet ein Selbstverständnis, das die Basis des weiteren Zusammenlebens bildet („Eine echte Lebensgemeinschaft, keine Zweck-WG“). Solidarität, Respekt, Toleranz, wichtige Entscheidungen im Konsens. Es kommt die Idee auf, das Haus von den Besitzern zu kaufen und selbst zu verwalten. Das Geld für den Hauskauf soll zur Hälfte über Kredite finanziert werden, die andere Hälfte gibt die Bank.
Seine Rolle im Haus? Carlo kümmert sich um den Internet- und IT-Kram im Haus. Sein neuestes Vorhaben: die digitale Vernetzung der hausinternen Diskussionen. Gerade in alternativen Kreisen herrsche oft Vorsicht vor Computern („Technik wird wenig differenziert betrachtet, als unnötige Spielerei“). Auch die Angst wird stärker, beispielsweise vor Überwachung („Ja, es gibt Gefahren, aber es gibt einige äußerst nützliche digitale Werkzeuge“). Mit zwei Bewohnern hat er die Selbstverwaltungssoftware „Open Atrium“ im Haus etabliert. Mit dem Programm können Diskussionen vorstrukturiert, Dokumente gesammelt, To-do-Listen erzeugt und Termine für alle einsehbar gemacht werden („Enorm hilfreich“).
Die WG: Carlo hat vier Mitbewohner. Maria studiert Sonderpädagogik, Robert Mathe und Politik auf Lehramt. Isa und Marie verbringen nach ihrem Bachelorstudium ihre Zeit jetzt vor allem mit dem Haus. Die Fünf verstehen sich gut, alle verbindet der Wunsch nach Unabhängigkeit und Offenheit. Dabei leben sie recht unterschiedlich. Carlo etwa lernt während seiner Prüfungsphase fast Tag und Nacht in der Bibliothek, andere haben viel Zeit für sich und das Haus („Da nimmt man wahr, dass es sehr unterschiedliche Realitäten bei uns gibt“).
Carlo Michaelis: Aufgewachsen und geboren in Groß-Umstadt nahe Darmstadt. Die Mutter hat einen Blumenladen, der Vater arbeitet bei der Stadtverwaltung und entwickelt dort Konzepte zur Einbindung von Bürgern („Eigentlich ist das dem ganz ähnlich, was ich hier im Haus mache“).
Beziehung: Schwierig. Carlo und Sarina. Sie lernen sich im Schwimmbad kennen, in der elften Klasse. Er ist beim DLRG, sie im Schwimmverein. Das erste Date? „Wir sind schwimmen gegangen.“ Bald darauf sind sie zusammen und wollen nach dem Abi zum Studium nach Leipzig. Carlo muss noch seinen Zivildienst machen, Sarina geht vor. Die Fernbeziehung fällt beiden nicht leicht; als Carlo nach Sachsen zieht, trennen sie sich nach kurzer Zeit. Sie kommen später nochmal zusammen, die endgültige Trennung folgt im vergangenen Winter. Jetzt wohnt sie im Haus nebenan, das Verhältnis ist gut. Muss es auch, sie haben einen Hund, um den sie sich abwechselnd kümmern.
Afrika: Im vergangenen Sommer hat er das erste Mal seit Jahren richtig frei im Sommer. Carlo will nach Afrika und irgendwas Soziales machen („Ein bisschen Klischee, aber das war mir egal“). Über eine Freundin findet er ein Waisenhaus in Nigeria („Ich wollte mal irgendwo hin, wo niemand so ist, wie ich bin“).
Zukunft: Der Psychologie-Bachelor ist fertig, jetzt fehlt der Abschluss in Physik. Dafür will Carlo sich Zeit lassen. Er würde gerne noch mehr im Haus arbeiten. Die Gemeinschaft hat einen Garten gepachtet, in dem Gemüse für den Eigenbedarf angebaut werden soll. Eine Arbeitsgruppe im Haus soll den Wandel im Viertel begleiten – Stichwort Gentrifizierung. Ein erstes Luxuswohnheim für wohlhabende Studenten gibt es schon in der Nachbarschaft. Aber: „Niemand weiß, was man tun kann“. Später will Carlo vielleicht einen Master machen, Statistik interessiert ihn. Dann müsste er aber nach Berlin ziehen und das Hausprojekt verlassen. „Ich weiß jetzt schon, dass mir das enorm schwerfallen wird.“
Was hält er von Merkel? „Sie ist nicht böse, aber sie ist auch nicht gut. Sie macht keinen Job mit Visionen, der uns voranbringt.“
Wann ist er glücklich? „Wenn ich achtsam das wahrnehme, was ist und ganz bei mir bin, ohne mich ablenken zu lassen. Einfach den Moment genießen, so wie er ist, egal ob ich in der Bibliothek sitze und lernen muss oder ob ich in der Natur bin.“
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