Die Lieblingsspeise von Suzu

CANNES CANNES 3 Matteo Garrones „Il racconto dei racconti“, Radu Munteans „Un etaj mai jos“ sowie Hirokazu Kore-edas „Umimachi Diary“ und ein Blick ins Wörterbuch

Le Monde und Libération klagen unisono, es gebe in diesem Jahr so viele englischsprachige Filme in Cannes, genauer, so viele europäische Autorenfilmer, die auf Englisch drehen. Dass das nicht immer eine glückliche Entscheidung ist, zeigt Matteo Garrones Wettbewerbsbeitrag „Il racconto dei racconti“ („Tale of Tales“), in dem Salma Hayek, Vincent Cassel, Alba Rohrwacher und andere als Figuren aus „Il Pentamerone“ auftreten, einer Sammlung von Erzählungen des Neapolitaners Giambattista Basile (1575–1632).

Der Film hat zwar tolle Einfälle, etwa einen wunderlich gewordenen König, der sich der Pflege eines Riesenflohs widmet, oder eine Szene, in der ein Taucher gegen ein Seeungeheuer kämpft, wobei der größte Teil des Kampfes aus der Subjektiven des Mannes gefilmt ist, das heißt durch das beschlagene Fenster des Taucherhelms: ein milchiges Bild, das sich manchmal rötlich einfärbt, weil Blut fließt.

Obwohl es solche schönen, grotesken Momente gibt, bewegt sich „Il racconto dei racconti“ wie in einem luftleeren Raum; anders als etwa Guillermo del Toros „Pans Labyrinth“ (2006) sucht Garrones Film weder nach Anbindung noch nach Kontext, und das passt dann ganz gut zu den englischen Sätzen, die sich in den Mündern von Alba Rohrwacher oder Vincent Cassel auch nicht so ganz zu Hause fühlen.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn wer fremde Sprachen in Filmen hören möchte, ist in Cannes nach wie vor gut aufgehoben. Zum Beispiel bei dem rumänischen Regisseur Radu Muntean. Dessen „Un etaj mai jos“ („One Floor Below“) ist ein Beitrag zur Reihe „Un certain regard“. Im Mittelpunkt steht der etwa 45 Jahre alte Patrascu (Teodor Corban). Als er eines Morgens die Treppen zu seiner Wohnung hinaufsteigt, nimmt er wahr, wie ein Paar im ersten Stock heftig streitet. Er hört das Geräusch von Schlägen und die Schmerzensschreie der Frau, aber er unternimmt nichts. Am Folgetag ist die Tür von der Polizei versiegelt; in der Wohnung wurde die Leiche der Frau gefunden, das Genick gebrochen. Als ein Inspektor die Hausbewohner befragt, sagt Patrascu kein Wort von dem, was er wahrgenommen hat.

Auf diese unerhörte Begebenheit folgt in erster Linie Alltägliches. Auseinandersetzungen mit dem Sohn darüber, wie viel Zeit er vorm Computer sitzt, ein Besuch bei der Mutter, der Patrascu Gardinen anbringt, Spaziergänge mit dem Familienhund, einem Golden Retriever, dessen Kot Patrascu im Park vorschriftsgemäß aufsammelt. Als er einem Kampfhundbesitzer begegnet, sagt er, er habe früher auch solch ein Tier besessen. Der Mann mit dem American Staffordshire Terrier antwortet: „Und warum jetzt dieser Teddybär?“ Muntean hat eine sehr subtile Art, von Verhältnissen zu sprechen, in denen Gewalt ubiquitär ist.

Japanisch höre ich in Hirokazu Kore-edas Wettbewerbsbeitrag „Umimachi Diary“ („Our Little Sister“), einer sensibel beobachteten Familiengeschichte um drei Schwestern, die früh von ihren Eltern verlassen wurden. Nach dem Tod des Vaters zieht die jüngere Halbschwester Suzu (Hirose Suzu) bei ihnen ein. Welche Verheerungen Familien anrichten können, gerät bei Kore-eda nicht aus dem Blick, aber zugleich hat er ein großes Gespür für das, was an Bindung eben auch da ist.

Diese Ambivalenz über die zwei Stunden Laufzeit durch- und auszuhalten, ist ein großes Verdienst des Films. Einmal überfordern mich die Untertitel. Die französischen sprechen von alevin, die englischen von whitebait. Erst als ich ins Wörterbuch gucke, weiß ich, dass damit Jungfische gemeint sind. Gebraten, auf Toast sind sie die Lieblingsspeise von Suzu, weil ihr Vater sie so oft für sie zubereitete. CRISTINA NORD