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Archiv-Artikel

Das neue Digitalprodukt

Vertrauenskrise hin oder her – endlich haben sie mal etwas gemeinsam, die Mehrheit der Menschen aus Deutschland und die internationalen Medienhäuser: Autonomieverdrossenheit. Kapitulation, wenn das Gefühl der eigenen Ohnmacht zu groß wird. Und vielleicht ist es sogar gut, wenn andere die Kontrolle übernehmen …

Damit ließe sich erklären, warum so viele Leute nicht interessiert, wie genau Geheimdienste sie überwachen. Wird schon seine Richtigkeit haben, Sicherheit und transatlantisches Bündnis und so. Und so könnte man vielleicht auch verstehen, was diverse internationale Medienhäuser treibt, ihre Inhalte einfach direkt auf Facebook zu veröffentlichen, statt darauf zu warten, dass die Facebook-Nutzer per Link den Weg zu ihren Seiten finden. Das ist jetzt eben so. Tschüss, Selbstbestimmung.

Seit dieser Woche veröffentlicht Facebook über seine App als „Instant Articles“ Texte und Videos großer journalistischer Flaggschiffe, von New York Times und Guardian, National Geographic und Buzzfeed, Spiegel und Bild. Sie alle bekommen zumindest den Löwenanteil der Werbeeinnahmen – und einen ganzen Sack neuer Leser dazu. Und Facebook tilgt einen weiteren Grund, jemals den umzäunten Garten seines Netzwerks zu verlassen.

Das ist einerseits naheliegend: Die Startseiten vieler Medien siechen vor sich hin, weil immer mehr Leser die Nachrichten über Facebook beziehen. Darum die Flucht nach vorn: Auf Facebook findet man viele Leser und kassiert Werbeeinnahmen. Das ist besser, als sich auf der eigenen Website ins Nichts selbstzubestimmen – weil niemand mehr vorbeischaut. Nur: Die Verantwortung fürs Austragen des Digitalprodukts liegt in Zukunft bei Facebook. Ebenso die Logistik. Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn ein Inhalt Facebooks Geschäftsbedingungen nicht entspricht.

Börsennotierte Netzgiganten fühlen sich im Zweifel niemandem verpflichtet – schon gar nicht der Rettung des Journalismus. Sie neigen dazu, die Spielregeln zu ändern, wenn es ökonomisch opportun ist. Wer legt denn fest, wie Facebook die Inhalte sortiert? Wer will garantieren, dass das Unternehmen nicht mehr Werbeeinnahmen einbehält, wenn der Dienst einmal läuft? Plus: Facebook spielt mit den großen Medienhäusern. Kleinere dürften irgendwann hinterherhoppeln. Oder sie weigern sich mitzuspielen – und ihr Content wird dementsprechend ausgeliefert, nämlich die paar Sekunden länger, die im Netz Ewigkeiten sind.

Und trotzdem gibt es sie, Branchenbeobachter, die diese neue Abhängigkeit der Verlage von Facebook zum strategisch klugen Schachzug umschreiben: die Konditionen gut, die Aussicht auf mehr Leser bestechend – und die Ladezeiten für die Artikel endlich kaum mehr wahrnehmbar. So kann man sich Kontrollverlust natürlich auch schönschreiben.

Sich etwas schönreden, das macht man in den Machtzentralen der EU auch gerne. Keine Feierstundenrede, die ohne Hymne auf die europäische Wertegemeinschaft auskam. Auf den Kulturraum Europas. Nicht nur, um der Türkei zu erklären, warum sie kein Mitgliedstaat werden darf, sondern auch ganz allgemein, um auf die eigene Großartigkeit hinzuweisen.

In dieser Woche wurde bar jeder menschlichen Empathie über die Quote für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU so gestritten, dass man dringend aufhören sollte, so zu tun, als wäre die EU ein hochgeistiger Schöngeistklub statt einer Wirtschaftsgemeinschaft, in der jeder vornehmlich auf sich schaut. Was kaum jemand so knackig zusammenfasste wie die britische Innenministerin Theresa May, die meinte, jene Flüchtlingsquote werde noch „mehr Menschen dazu ermutigen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen“. Schon klar, die Briten haben ein noch gestörteres Verhältnis zur Europäischen Union als alle anderen. Schon klar auch, dass besonders Großbritannien gegen die Quote keilt – müsste es doch deutlich mehr Menschen aufnehmen als bislang.

Aber auch Tschechien, Polen und Ungarn sind dagegen – und Länder wie Deutschland wohl vor allem deshalb nicht, weil sie bereits so viele Flüchtlinge aufgenommen haben, dass sie durch die Quote entlastet würden. Nur: Verhandeln wir jetzt Menschen, die um ihr Leben flüchten, so wie man einst Butterberge verhandelt hat? Weg damit, bloß keine falschen Anreize schaffen, vielleicht bleiben die dann ja in ihren zerschossenen syrischen Häusern hocken? Besonders widerlich daran ist natürlich der Reflex, das Leid von Flüchtlingen bitte schön aus dem eigenen Vorgarten rauszuräumen. Was man ja auch hierzulande kennt. Nicht zuletzt aus den gut situierten Villenvierteln diverser deutscher Großstädte.

MEIKE LAAFF