Gefühlsleben zu Produktionsmitteln

FILMREIHE In „Kino im Plural“ geht es um kollektives Filmemachen ebenso wie um Episodenfilme und gemeinsame ästhetische Werte von Cineasten

Fassbinders Grenzüberschreitungen waren das Konstitutive seiner Existenz

VON CAROLIN WEIDNER

Über Rainer Werner Fassbinders Arbeitsweise hat der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser geschrieben: „Indem er sein Gefühlsleben in Produktionsmittel umwandelte und umgekehrt, aus seinem Leben wie dem Filmemachen eine Lebensanschauung- und -haltung bezog, wurden die ständigen Grenzüberschreitungen zwischen dem Persönlichen und dem Beruflichen zum Konstitutiven seiner Existenz.“ In einem Film wie „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (1972) ist diese Prinzip ganz besonders ersichtlich.

Annekatrin Hendel hat sich in ihrer Filmbiografie „Fassbinder“ – die die gerade im Kino läuft und über die man sich durchaus streiten kann – so etwa den Spaß erlaubt, in einer Szene die Köpfe von Petra (Margit Carstensen) und Karin (Hanna Schygulla) mit jenen Fassbinders und Günther Kaufmanns zu ersetzen. Eine fast schon dreiste Collage, hätte sich Fassbinder nicht selbst einschlägig über die Figur der Petra von Kant als Stellvertreter ausgesprochen. Das ist eine Form von „Plural“, die im Werk Fassbinders zu finden ist. Eine andere lässt sich leicht ausmachen, liest man die Namen der an seinen Filmen beteiligten Mitarbeiter. Sie wiederholen sich nicht nur – gerade in seinen frühen Werken tauchen viele von ihnen in Doppel- oder Dreifachfunktionen auf. Obendrein herrschte ein kommunenhaftes Zusammenleben. RWF, das ist wirklich „Kino im Plural“.

So lautet auch der Titel der aktuellen Filmreihe der Magical History Tour im Arsenal. Ein Titel, der ein überaus weites Feld absteckt und auch abstecken möchte. Wird der Fokus bei Fassbinder auf jene „familienähnlichen Strukturen“ gelenkt, sind bei der restlichen Auswahl ganz andere Pluralitäten denkbar und auch gemeint. In Robert Altmans unbedingt sehenswertem „Short Cuts“ (1993), der auf neun Kurzgeschichten und einem Gedicht Raymond Carvers basiert, schließen sich die verschiedenen Handlungsstränge zu einem verstörenden Gemälde eines Suburbs in L. A. zusammen.

Dabei ist schon in der klug arrangierten Titelsequenz alles auf Hysterie gebürstet, ist das zersplitterte Gemeinsame von Anfang an Thema: Während ein Trupp Helikopter nachts über L. A. fliegt – um Gift gegen Mittelmeerfliegen zu sprühen, vor denen sich insbesondere in den frühen 80er Jahren halb Kalifornien fürchtete –, wird immer wieder in verschiedene Handlungen gezoomt. Ein Ehepaar macht es sich vor dem Fernseher gemütlich, während eine junge Frau beim Telefonsex ihrem Sohn Kekse serviert und den von der Arbeit kommenden Mann beiläufig begrüßt. Andere sitzen in feiner Robe in einem Konzertsaal. Interessanterweise wird die Musik von einem Streichensemble vorgetragen, in deren Mitte eine in Weiß gekleidete Dame platziert ist, um die sich vier Frack-Träger kränzen. Ein symbolhaftes Bild – jede der Carver-Altman-Gruselgeschichten ist hin und wieder im Fokus, tritt jedoch bald wieder ab, um anderen den Vorrang zu lassen. Wesentlich werden die Erzählungen in ihrer kunstvoll inszenierten Gesamtheit: „Scary stuff that Carver uncovered.“ Damit sind die Seiten, von denen sich „Kino im Plural“ annähert, aber noch längst nicht erschöpft.

„Die Quereinsteigerinnen“ (2006) von Rainer Knepperges und Christian Mrasek erzählen nicht nur die Geschichte von Harald Winter und dessen Entführung durch Barbara und Katja, sondern auch von der Kölner Gruppe – eine von Peter Nau in den Neunzigern geprägte Bezeichnung für das filmaktive Umfeld um den Filmclub 813 und das Kölner Filmhaus. Neben dem – gemeinsamen – Filmemachen konnten sich die Mitglieder der Kölner Gruppe wenn nicht auf Dogmen, so doch auf einige cineastische Orientierungspunkte einigen. Einer von ihnen ist die Antipsychologisierung, womit sie in einem direkten Gegensatz zu etwa Fassbinders Antitheater-Clique stehen.

An einem völlig anderen Ort befinden sich die gealterten Opernsänger in Daniel Schmids „Il Bacio di Tosca/Der Kuss der Toscana“ (1984), und zwar in der Casa Verdi, einem Altersheim in Mailand, das von Verdi gegründet wurde. Hier wird das alte Bühnen-Ich erneut zum Leuchten gebracht: Hingabe im Plural.

■ Die Reihe „Kino im Plural“ läuft im Kino Arsenal im Rahmen der „Magical History Tour“ noch bis zum 31. 5., unter anderem mit „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, 16. 5., 19. 30 Uhr; „Deutschland im Jahre Null“, 19. 5., 19. 30 Uhr; „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, 20. 5., 20 Uhr; „American Hustle“, 21. 5., 19. 30 Uhr; „Délits Flagrants“, 28. 5., 20 Uhr