GEHT’S NOCH?
: Befreiung? Von wegen!

WAS HABEN WIR EIGENTLICH GEFEIERT AM 8. MAI? ALS DEUTSCHER IST MAN BIS HEUTE TEIL EINER POSTNAZISTISCHEN GESELLSCHAFT

Der Kalender nennt ihn den „Tag der Befreiung“, den 8. Mai. Eine völlig verklärte Bezeichnung. Die europäische Sicht zu übernehmen und den Tag als „Befreiung“ zu feiern, ist zu simpel. Denn Deutschland wurde nicht befreit.

40 Jahre lang nannte man im Westen Deutschlands den Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht „Niederlage“ oder positivistisch „Zusammenbruch“. Bis am 8. Mai 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker entlastende Worte fand. Der 8. Mai sei der „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Eine neue Narration war geboren. Endlich fand man Worte, um sich von den vergangenen Verbrechen zu distanzieren. Doch von der „Befreiung“ Deutschlands zu sprechen, ist faktisch falsch.

Die Gefangenen in KZ und Arbeitslagern und auch die Widerständigen wurden befreit, Europa vom Naziregime erlöst. Für die Unterstützer des Nationalsozialismus hingegen, und das war der Großteil der Deutschen, wurde nur ihr nationaler Traum in die Ferne gerückt. Wie glücklich viele Deutsche über die vermeintliche „Befreiung“ waren, zeigen die Freitoten: Nach Kriegsende nahmen sich nicht nur Parteigrößen und Offiziere das Leben. Tausende „ganz normale Bürger“ brachten sich in den Wochen nach Kriegsende um.

Zur Form des Begriffs: „Befreiung“ funktioniert ganz ohne Subjekt: Wer hat wen befreit? Der 8. Mai 1945 war „kein Tag der deutschen Selbstbefreiung“, sieht sich auch Bundestagspräsident Norbert Lammert am Freitag in einer Gedenkstunde genötigt zu erwähnen.

Der Begriff „Befreiung“ impliziert, dass die Nazis eine Minderheit waren, die die deutsche Bevölkerung unterdrückt haben. Zudem bleibt zu bezweifeln, dass mit der nationalsozialistischen Regierung auch die ebenso antisemitischen, rassistischen und antidemokratischen Gedanken in den Köpfen der Menschen verschwanden. Der Begriff „Befreiung“ verklärt, dass man als Deutscher Teil einer postnazistischen Gesellschaft ist. Bis heute.

SVENJA BEDNARCZYK